Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
dem die Entscheidung der Richterin ohnehin ein Dorn im Auge gewesen war.
»Dann wird morgen eine Inobhutnahme stattfinden«, sagte er bestimmend.
»Aber dann müssen die Kinder ja noch eine Nacht …«
Er unterbrach mich: »Heute kriegen wir das nicht mehr sauber über die Bühne. Aber morgen dann auf jeden Fall. Diese eine Nacht müssen die Kinder noch aushalten. Aber das ist die letzte.«
Herr Steiger sprach so beruhigend auf mich ein, dass ich mich zum einen besser, zum anderen aber auch irgendwie unprofessionell fühlte. Ich hätte wissen müssen, dass das Jugendamt nicht jetzt sofort handeln würde. Dass mir der Mitarbeiter aber versprechen konnte, dass alle drei Kinder am nächsten Tag in eine kindgerechte Umgebung kommen würden, beruhigte mich.
Ich fuhr nach Hause und stand sehr lange unter der Dusche. So lange, bis ich das Gefühl hatte, den ganzen Gestank und Dreck und auch die vielen negativen Gefühle weggewaschen zu haben. Zumindest soweit das möglich war.
Tatsächlich wurden die Kinder am Tag darauf in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Herr Steiger teilte mir am selben Tag telefonisch mit, dass für die drei Kinder alles gut verlaufen sei. Frau Koch habe zwar ein wenig herumgeschimpft, sich aber nach ein paar Minuten mit der Situation arrangiert und lediglich erklärt, dass sie das Kindergeld dennoch behalten werde.
Für Herrn Koch habe man nun eine Betreuung gefunden. Der Mitarbeiter des Jugendamtes hatte meinen Verdacht auf eine behandlungsbedürftige Depression geteilt.
Knapp zwei Jahre später hatte ich wieder einen Fall, mit dem auch Herr Steiger befasst war. Er erzählte mir, dass alle drei Kinder in Dauerpflegefamilien untergekommen seien, in denen sie sich wunderbar entwickelt hätten. Herr Koch habe sich kurze Zeit nach der Inobhutnahme seiner Kinder in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, in deren tagesklinischer Zweigstelle er sich noch heute befinde. Es gehe ihm deutlich besser, und er besuche seine Kinder regelmäßig.
Frau Koch hatte nach mehreren lautstarken Auseinandersetzungen mit diversen Ämtern (»Ich hab die Kinder bekommen, also gehört mir auch das Kindergeld! Das ist Diebstahl! Das Geld gehört mir!«) die Stadt verlassen. Sie hatte zunächst in Dresden, danach in Stuttgart und schließlich in Kaiserslautern gewohnt. Kontakt zu ihren Kindern hatte sie nie gehabt und diesen auch nicht gewünscht.
Fühl dich doch selber!
»Leonce …? Lena …?«
Herr Wischnewsky sah sich leicht verunsichert im Kinderzimmer um.
»Eben waren sie noch da … Leonce …? Lena …?«
Ich wartete im Türrahmen und überlegte, ob Herr Wischnewsky tatsächlich nicht wusste, wo sich seine sechsjährigen Zwillinge befanden, oder ob er Zeit schinden wollte, um den Beginn der Interaktionsbeobachtung so lange wie möglich hinauszuzögern.
Diese Termine sind für Eltern tatsächlich im Grunde immer unangenehm. Ob sie nun erziehungskompetent sind und ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern haben oder nicht, es ist einfach nicht schön, wenn man so normal wie möglich mit seinen Kindern umgehen soll, dabei aber eine Frau in einer Ecke steht oder sitzt, alles beobachtet und ständig etwas aufschreibt.
Nein, da wäre ich auch nicht entspannt. Ich erkläre allen Eltern im Vorfeld, dass es nichts Schlimmes bedeutet, wenn ich schreibe, sondern dass ich völlig wertfrei einfach notiere, was passiert, weil ich mir nun einmal nicht alles merken kann.
Ich bereite die Eltern auch darauf vor, dass es zu Konfliktsituationen mit den Kindern kommen kann, während ich da bin, und erkläre, dass das nicht per se negativ bewertet wird. Ich vereinbare mit allen Eltern so zeitnah wie möglich nach der Interaktionsbeobachtung einen weiteren Termin, um darüber zu sprechen. Wenn mir Eltern in diesem Gespräch erläutern, dass dieses oder jenes in der Interaktion mit ihren Kindern nicht so war wie sonst, sich selbstkritisch hinterfragen und erklären, dass sie ein paar Dinge vielleicht besser anders gemacht hätten, kann das durchaus eine nicht so gut gelaufene Interaktion ein wenig geraderücken. Natürlich muss niemand perfekt sein.
Dennoch … Es ist und bleibt eine blöde Situation.
Auch, und besonders, für Herrn Wischnewsky, der im Erstgespräch so souverän sein hervorragendes Verhältnis zu Leonce und Lena und seine ebensolchen Erziehungskompetenzen beschrieben hatte.
Leonce und Lena …
Ich habe weder etwas gegen den Namen »Lena« noch gegen
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