Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
dieser Dreck und der Geruch nach Alkohol …
Schlurfende Schritte kamen näher, und in Nadjas Gesicht breitete sich Panik aus. Sie riss die Augen auf und versteckte den Teddy schnell hinter ihrem Rücken.
Frau Koch schaute kurz ins Zimmer und blies eine Rauchwolke hinein. »Du bleibst im Zimmer!«
Und fort war sie.
Nadja blieb noch eine ganze Weile wie versteinert stehen und steckte den Teddy danach wieder in die Ecke zwischen einen Stapel irgendwas.
Ich beschloss zu gehen und das Jugendamt anzurufen. Mir fehlte zwar die Erfahrung, aber das hier konnte alles nicht richtig sein. Auf keinen Fall.
Ich hockte mich vor Nadja, die mich aufmerksam ansah, und erklärte, dass ich nun wieder gehen müsse. Sie nickte, dann nahm sie meine Hand.
Mit ihr an der Hand ging ich in das »Wohnzimmer«, um mich zu verabschieden.
Herr Koch saß über eine Zeitung gebeugt am Campingtisch. Er sah mich nicht an, als ich mich verabschiedete, und erwiderte nur ein »Ja, ja …«.
Frau Koch schubste Nadja so fest an der Schulter, dass sie fast hingefallen und mich mit zu Boden gerissen hätte, weil sie sich plötzlich mit einer erstaunlichen Kraft an meine Hand klammerte.
»Du gehst jetz in dein Zimmer, Frollein! Aber flott! Los!«
Nadja erwiderte nichts, hielt aber weiter meine Hand umklammert.
Ich fühlte mich unbehaglich.
Herr Koch offenbar auch, denn er stand auf und ging in den abgetrennten Teil des Zimmers. Ich stellte mir vor, wie er sich hinter die Sperrholzplatte kauerte und sich die Ohren zuhielt. Na ja, das Ohr zuhielt.
Frau Koch nahm Nadjas Arm und riss mit einer solchen Wucht daran, dass diese sofort meine Hand losließ. Nadja lief mit einem unterdrückten Schluchzer in Richtung ihres Zimmers.
»Ja, jetz aber ab in dein Zimmer! Und da bleibste gefälligst! Ich kann mich nich ständig um dich kümmern! Echt, ey!«
Ich verabschiedete mich schnell von Frau Koch und hätte erleichtert aufgeatmet, als ich mich im Treppenhaus befand, wenn dort die Luft nicht so schlecht gewesen wäre.
Fast wäre ich über Nadja gefallen, die urplötzlich vor mir stand. Sie musste irgendwie an ihrer Mutter vorbei zur Tür gewuselt sein.
Sie nahm wieder meine Hand.
»Nadja, ich glaube, du musst jetzt wieder rein zu deinen Eltern.«
Ich hatte Sorge, dass Frau Koch Nadja hier draußen entdecken und unverhältnismäßig heftig bestrafen würde.
Und ich wusste nicht so recht, was ich mit Nadja an der Hand tun sollte.
Natürlich war mein Impuls, dieses kleine Mädchen einfach mitzunehmen und ihm zu zeigen, dass alles gut werden würde. Aber es war mir auch klar, dass das jetzt nicht möglich war.
Nadja sah das anders.
Sie stand da, hielt meine Hand und sagte schließlich: »Mitkommen.«
Dieses eine Wort werde ich nie vergessen.
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich auf einmal eine zentnerschwere Last auf meinen Schultern zu tragen. Ich glaubte es körperlich zu spüren.
Was sollte ich jetzt tun? Was konnte ich tun? Was durfte ich?
In mir schrie eine Stimme: »Nimm sie mit! Jetzt! Schau sie dir doch an! Du KANNST sie doch unmöglich hierlassen!«
Als hätte Nadja gespürt, dass ich kurz davor war, etwas Unüberlegtes zu tun, stellte sie sich vor mich, nahm auch meine andere Hand und wiederholte: »Mitkommen.«
Oh. Mein. Gott.
Was soll ich …?
Soll ich?
Nein, nein, nein!
Nicht schwach werden jetzt!
Professionell bleiben!
Du bist Sachverständige!
Du musst neutral sein!
Und vor allem darfst du keine Kinder mitnehmen!!!
Ich schluckte.
»Nadja, ich muss jetzt wieder zurück zur Arbeit (eine glatte Lüge) und deine Eltern warten auch schon auf dich (sicher nicht, sie wollen einfach nur ihre Ruhe haben). Bis bald!«
Ich löste meine Hände von den ihren und ging schnell die Treppe hinunter.
Ich drehte mich nicht mehr um.
Ich hatte keine Ahnung, was Nadja tat. Nichts war zu hören.
Ich redete mir ein, dass sie einfach wieder nach drinnen gegangen war und es ihr im Grunde ganz egal war, ob sie nun mit jemand mitkommen konnte oder nicht.
Ich glaube mir das nach wie vor nicht.
Ich lief schnell zu meinem Auto und fuhr als Erstes ein paar Straßen weiter, um einen gewissen Abstand zur Familie Koch und ihrem stinkenden Chaos zu haben. Abstand zu meinen Gefühlen konnte ich allerdings nicht so leicht gewinnen.
Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, rief ich beim Jugendamt an und schilderte meinen Eindruck. Glücklicherweise war ich an Herrn Steiger geraten. Er war ein kompetenter Sozialpädagoge,
Weitere Kostenlose Bücher