The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
AM ENDE
20. Oktober 2008: Turpan, westchinesische Wüste
Ich stehe auf einer Straße, vor mir eine Mautstation und ein paar Läden und um mich herum die Wüste Gobi. Meine schweißnassen Hände halten die zwei Stangen, an denen ich den Karren mit meinen Sachen hinter mir herziehe.
Die Schmerzen in den Füßen, der Wind, die Wüste und selbst die Polizisten, die mir den Weg versperren, das alles ist mir egal.
Mein Herz tut weh. Ich kann an nichts anderes denken, als dass es aufhören soll.
»Du kommst hier nicht vorbei«, verkündet der dickere der beiden Polizisten und macht eine abweisende Handbewegung. Er trägt einen gigantischen Schlüsselbund am Gürtel, mit dem er zweifellos jede einzelne Nudelbude von hier bis ins 4500 Kilometer entfernte Beijing auf- und abschließen könnte. Dieser Bund und seine tiefe Stimme verleihen ihm die Aura eines Chefs.
»Viel zu gefährlich«, erläutert der andere Polizist, der in einer orange leuchtenden Warnweste steckt. Zur Sicherheit wiederholt er das letzte Wort noch einmal sehr langsam und deutlich. »Ge-fähr-lich!«
Die Silben hängen in der Luft, der Wind bringt Staub aus der Wüste. Einen Moment lang starren wir uns alle nur verständnislos an. Ich wünschte, ich könnte einfach durch die beiden hindurchgehen.
Die Warnweste zeigt auf den Horizont hinter mir und sagt: »Sturmwarnung! Wir sperren die Straße ab.« Und tatsächlich: Am Himmel stehen zwei Wolkentürme, die dabei sind, auseinanderzufallen und sich als düstere Masse über die Landschaft auf uns zuzuwälzen. Ich muss trotzdem weiter, es geht nicht anders.
Dem Schlüsselbund ist offenbar eine Idee gekommen. »Kannst du überhaupt Chinesisch?«, fragt er.
»Ja«, antworte ich.
»Ah, er kann Chinesisch!« Die Warnweste triumphiert, während der Schlüsselbund fortfährt. »Kehr um und geh in die Stadt zurück, hier draußen wird es später zu gefährlich!«
»Ich gehe weiter.«
»Vollkommen ausgeschlossen!«
»Ich muss.«
»Aber das geht nicht! Kehr um und versuch es vielleicht morgen noch einmal!«
Wie soll ich ihm das nur erklären?
»Ich muss heute weiter!«
»Und wohin?«
»Nach Ürümqi.«
»Ürümqi? Aber das sind fast zweihundert Kilometer!«
Dem Schlüsselbund scheint langsam zu dämmern, dass hier etwas nicht stimmt. »Moment mal!«, sagt er. »Warum fährst du nicht mit dem Auto?«
»Ich gehe immer zu Fuß. So bin ich gekommen, und so gehe ich weiter.«
»Und woher bist du gekommen?«
»Aus Beijing.«
»Beijing?!« Chinesen hängen gern ein ah ans Satzende, um ihr Erstaunen auszudrücken. »Beijing-ah?!«, macht der Schlüsselbund also und zieht das ah in die Länge. »Zu Fuß-ah?!«
»Richtig.«
Die beiden Polizisten blicken einander befremdet an, dann mustern sie mich von oben bis unten: einen knapp über einen Meter neunzig großen Ausländer in fadenscheinigen Klamotten, mit langem Haar und struppigem Bart, dessen Augen blutunterlaufen sind und der einen weißen Karren durch die Wüste Gobi zieht.
Es scheint, als wäre dem Schlüsselbund erst jetzt das Nächstliegende eingefallen. »Pass und Visum!«, bellt er.
Ich schlucke meinen Ärger hinunter und mache mich daran, aus den Tiefen meines Karrens die gewünschten Dokumente hervorzukramen.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich die Warnweste neugierig nach vorn beugt, während der Schlüsselbund irgendetwas in ein Funkgerät spricht. Aus den Läden neben der Mautstation sind einige Bauern herbeigelaufen, um das Spektakel zu verfolgen. Ein langhaariger, bärtiger Ausländer, der Ärger mit der Polizei hat und in fremden Sprachen flucht, das ist schon etwas hier draußen. Ich bin eine Attraktion.
Endlich finde ich zwischen einer Melone und einer Kekspackung meinen Dokumentenbeutel und nehme den Pass heraus: achtundvierzig Seiten, vor drei Monaten frisch ausgestellt, ein makelloses Stück Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Er leuchtet bordeauxfarben im Graubraun der Gobi.
Der Schlüsselbund flippt mit zwei Fingern durch die Seiten und bleibt schließlich bei dem Ausweisbild hängen. Christoph Rehage , steht da, geboren am 09.11.1981 in Hannover . Er tut einen Moment lang so, als ob diese Information für ihn irgendeinen Sinn ergeben würde, dann klappt er den Pass mit einer Hand zu und schnauzt: »Visum!«
»Es ist genau vor deinen Augen«, sage ich böse, »und wenn du lesen könntest, hättest du es bereits gefunden!«
Er blättert verwirrt in meinem Pass herum, und ich beschließe, noch einmal nachzutreten.
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