Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
verändern, dass die Begutachtung besser möglich ist.
Aber damals war ich schlicht und ergreifend überfordert.
Herr Koch klopfte mir auf die Schulter und spuckte ein »Setzensesichmal« in meine Richtung.
Ich nahm auf einem wackeligen Campingstuhl Platz, auf dem irgendetwas klebte. Ich wollte gar nicht wissen, was das war. Herr Koch begann das Gespräch, ohne auf Fragen meinerseits zu warten. Das war auch gut so, denn ich hatte massive Akklimatisierungsprobleme und hätte wohl nur ein »W…?« von mir geben können.
Wenn ich Herrn Koch beim Sprechen nicht ansah und auch keine Speicheltröpfchen in mein Gesicht flogen, konnte ich ihm recht gut zuhören. Er nuschelte leise vor sich hin, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt.
Herr Koch erzählte von seiner Kindheit in einem Dorf im Osten, von seinen Eltern, die ihn nur als Fremdkörper empfanden, und davon, dass er sich mit Anfang zwanzig das Leben nehmen wollte. »Mit Benzin. Hab mich übergossen und angezündet. Ich fand das damals eine gute Idee. Hat aber nicht geklappt. Sieht man ja.«
Über zwei Jahre hatte Herr Koch in diversen Kliniken verbracht. Danach war er obdachlos geworden und hatte in dieser Szene neue Freunde gefunden. »Da waren manchmal welche dabei, die nicht auf mich herabgeschaut haben. Die sich nicht geekelt haben. Wahrscheinlich, weil sie zu besoffen waren … Aber mir ging es nicht besser. Da hab ich Tabletten genommen. Ganz viele. Schlaftabletten und Schmerzmittel und all so was. Hat aber auch nicht geklappt. Ist eben nicht so leicht. Ein andermal vielleicht …«
Herr Koch wirkte auf mich hochgradig depressiv, aber bevor ich mich näher mit ihm beschäftigen konnte, unterbrach ihn seine Frau. »Klaaauuus! Du sollst doch nich immer diese alten Geschichten erzählen. Hab ich dir doch schon tausendmal gesacht! Die Frau soll sehen, dass hier alles ganz normal is, und nicht dein verrücktes Zeug vom Feuer hören! Also, echt, ey!« Sie wedelte dabei so sehr mit ihrer Zigarette vor dem Gesicht ihres Mannes herum, dass dieser ängstlich zurückwich. Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf mich. »Und Sie, was wollen Sie eigentlich? Was soll der Scheiß vom Jugendamt?!«
»Frau Koch, es ist so. Das Jugendamt hat ja …«
»Juuuuugendamt! Ja, die kommen immer, reißen alle Schränke auf und machen dann Ärger. Das is alles, was die können. Schränke aufreißen und Ärger machen. Können Sie mir mal sagen, was das soll? Können Sie das? Hä? Hier is alles normal! Ich zeig’s Ihnen! Da!«
Sie machte eine ausholende Armbewegung, und vor meinem inneren Auge erschienen Schlossmauern und eine weite Landschaft voller Müll. Und Frau Koch, die sagte: »Da! Das alles wird einmal dir gehören!«
Nein!
Konzentration!
Ich sah Frau Koch an. »Frau Koch, bitte zeigen Sie mir doch mal alle Zimmer, ja?«
»Nee!«
O Gott. Auch darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Familie sich bemühen würde. Dass sie die Wohnung aufgeräumt hätte und diese dann stolz zeigen würde. Dass die Kinder in sauberen Shirts brav auf einem Sofa sitzen würden und … Ja, wo waren eigentlich die Kinder? Zwei von ihnen waren unter drei Jahren. Zumindest diese beiden mussten irgendwo sein. Das älteste war möglicherweise im Kindergarten.
Ich erhoffte mir von Herrn Koch etwas mehr Kooperation und wandte mich an ihn. »Wo sind denn Ihre Kinder?«
Er schaute mich an, als würde er gleich fragen: »Wie? Was? Kinder?«
Frau Koch schaltete sich ein. »Die Kleinen sind mit Nachbarn unterwegs. Die Große kommt gleich von Kindergarten. Die is gleich da. Das is alles normal. Ganz normal. Die kommt schon irgendwann. Trödelt halt manchmal, die Göre.«
»Wann kommen die beiden Kleinen denn wieder? Wissen Sie, ich wollte die Wohnung sehen und auch die Kinder.«
»Die Kleinen sind weg. Hab ich doch gesacht. Die Wohnung is hier. Sehen Se doch. Die Große is auch gleich da.«
»Ich meinte alle Zimmer der W…«
»Hiiiiier isse doch, die Wohnung! Hiiiiiier! Sehen Se alles, was Se sehen müssen. Reicht ja wohl! Echt!« Wieder machte sie eine ausladende Geste.
Als ich ihr mit den Blicken folgte, sah ich, dass da plötzlich ein kleines Mädchen vor uns stand.
Das musste Nadja sein, die Große. Laut Akte war sie vier Jahre alt.
»Hallo.« Sie wurde weder von ihrer Mutter noch ihrem Vater begrüßt.
Ich streckte ihr die Hand hin: »Hallo.«
Nadja schaute mich verwundert an.
Okay, ihr die Hand geben zu wollen war wohl jetzt
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