Die Schattenflotte
Allerdings war unklar, ob man ihn bereits zu David vorließ. Das war allein die Entscheidung des Staatsanwalts. Sören kannte das Prozedere und die Formalitäten genau. Er war kein Außenstehender, was die Sache zumindest vereinfachen sollte. Aber heute war Feiertag, und das war keine gute Voraussetzung für einen beschleunigten Amtsweg. Er würde sich dennoch direkt auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis machen.
Als die Droschke in der Feldbrunnenstraße hielt, überlegte Sören kurz, ob er den Fahrer bitten sollte, vor dem Haus auf ihn zu warten, bis er sich umgezogen hatte. Doch dann entschied er sich dafür, das Rad zu nehmen, wie er es jeden Tag machte, wenn das Wetter es zuließ. Ihren Einspänner hatten sie bereits vor drei Jahren verkauft, als die Elektrifizierung der Ringlinie abgeschlossen war – mit der Straßenbahn fuhr es sich einfach günstiger, wenn auch nicht ganz so komfortabel. Übers Jahr gerechnet kostetendie Fahrscheine der Bahn nicht einmal die Hälfte von dem, was sie für den Unterhalt des Pferdes gezahlt hatten. Und ein noch größerer Vorteil war, dass die ewige Suche nach Stell- und Parkplätzen ein Ende hatte. Während der Geschäftszeiten war in der Innenstadt kaum ein Parkplatz zu finden, und seine Kanzlei in der Schauenburgerstraße verfügte über keine eigene Remise.
Sören wählte den kurz geschnittenen, knielangen Volantpaletot aus winddicht gewebter Wolle, setzte seine Schirmmütze mit den Ohrenklappen auf, klemmte die Hosenbeine mit zwei Wäscheklammern zusammen und schob das Fahrrad aus der alten Remise auf die Straße. Schon bald blickten ihm die ersten Passanten nach. Die Zeit der alten Hochräder war zwar seit Jahren vorüber, und Fahrräder mit zwei gleich großen Gummireifen sah man immer häufiger im Straßenbild, aber Sörens Rad stach allein durch seine extravagante, lang gestreckte Form mit dem geschwungenen Lenker und der großen Karbidlampe hervor. Er hatte das Fahrrad im Frühjahr letzten Jahres bei Seidel & Naumann’s Nähmaschinenmanufaktur in der Admiralitätsstraße erworben. Es war nicht billig gewesen, und Tilda hatte mal wieder mit den Augen gerollt, aber er hatte ihr schnell vorrechnen können, wie viele Billetts für die Straßenbahn er damit einsparen würde. Inzwischen spielte sie sogar selbst mit dem Gedanken, sich auch so ein Vehikel zuzulegen. Sören konnte es kaum erwarten, gemeinsam mit ihr auf eine sonntägliche Tour zu gehen. Bis zum Sommer musste er sich allerdings noch gedulden. Auch wenn der Winter bislang mild war, die Temperaturen luden dennoch nicht zum Verweilen im Freien ein. Und außerdem stand diesem Vorhaben noch Tildas möglicher Aufenthalt in Berlin im Wege.
Sören radelte über die Schulstraße, die man in Andenkenan den ehemaligen Senator neuerdings in Tesdorpfstraße umbenannt hatte, und weiter über die Gänseweide in Richtung Dammtordamm. Ein frischer Wind wehte ihm ins Gesicht. Vor ihm breitete sich die Baustelle des zukünftigen Bahnhofs aus. Der mächtige Sockel aus großen Steinquadern war so gut wie fertig, das eigentlich Imposante an der Erscheinung war jedoch das unheimliche Geflecht filigraner Stahlstreben, die sich wie das Gerippe eines riesigen Walfisches in den Himmel streckten. Selbst heute standen die Arbeiter auf den hohen hölzernen Gerüsten und waren damit beschäftigt, die stählernen Profile miteinander zu verbinden. In wenigen Tagen mussten sie den Scheitelpunkt der zukünftigen Bahnhofshalle erreicht haben. In Gedanken sah Sören bereits den Qualm der Lokomotiven vor sich, wie er langsam unter der gläsernen Tonne emporstieg.
Hinter dem Bahndamm bog er rechts ab und nahm die Abkürzung durch den Botanischen Garten, wohl wissend, dass das Befahren der Wege eigentlich nicht gestattet war, aber trotz der Verbotsschilder war er von den hier patrouillierenden Ordnungshütern bislang noch nie ermahnt worden. Es mochte daran liegen, dass er mit dem neuen Rad einfach zu schnell fuhr. Bis die Wachtmeister ihre Pfeife hervorgeholt hatten, war er längst außer Hörweite. Dabei waren einige Abteilungen der Polizei vor vier Jahren mit Dienstfahrrädern ausgestattet worden. Aber an diesem Ort hielten sich vornehmlich Beamte der Sittenpolizei auf, denn die entlegenen, nachts unbeleuchteten Trottoirs an den Bassins des ehemaligen Stadtgrabens waren seit einigen Jahren immer mehr zum Tummelplatz verbotener Gelegenheitsprostitution geworden. Die Zahl der Sittenwächter hatte sich seither verdoppelt. Meist waren sie in
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