Die Schattenflotte
Sören verwarf den Gedanken schnell. Lisbeth war nicht mehr in dem Alter, in dem man sie mit Kinderbetreuung belästigen konnte. Und Tilda hätte sich niemals damit einverstanden erklärt, ihre Tochter von einer alten Frau erziehen zu lassen. Er musste eine andere Lösung finden.
Doch zunächst einmal musste er endlich die Gäste bewirten. Sören hatte Punsch und gefüllte Berliner Pfannkuchen beim Warenhaus Tietz im Großen Burstah geordert. Für dreißig Trauergäste zu sieben Pfennig das Stück, inklusive Anlieferung nach Ohlsdorf. Das Problem war nur, dass er vorhin mehr als fünfzig Gäste gezählt hatte. Während er darüber nachdachte, wie er sich am elegantesten aus der Affäre ziehen konnte, bemerkte er die Droschke, die an der Alsterdorfer Straße hielt. Das Mädchen mit der dunklen Haube, das ihr entstieg, war eindeutig Agnes. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Irgendetwas musste vorgefallen sein, sonst hätte sie sich nicht über seine Anweisungen hinweggesetzt und wäre nach Ohlsdorf gekommen. Dazu noch mit Ilka, die ihren Vater längst ausgemacht hatte und ihm mit unbeholfenen, stolpernden Schritten, Agnes hinter sich herziehend, entgegengelaufen kam. Noch bevor er Agnes zur Rede stellen konnte, hatte sich Ilka an ihn geschmiegt. Sören blickte hilfesuchend zu Tilda, die über die Situation genauso erstaunt zu sein schien wie er.
«Aber wir hatten doch verabredet …» Sören gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. Er runzelte die Augenbrauen und holte tief Luft.
«Ja, Doktor Bischop. Es ist mir auch … Wenn es nicht einen Anlass gäbe, glauben Sie mir …»
Er hatte ihr schon tausendmal gesagt, sie solle ihn nicht ständig mit Doktortitel anreden, aber Agnes ignorierte es beharrlich. Vor etwas mehr als sechs Jahren hatten sie Agnes als Alleinmädchen ins Haus geholt. Das war etwa die Zeit gewesen, als Mathilda aufgehört hatte, Ilka zu stillen, und sich wieder ganz der Musik zugewendet hatte. Anfangs war es ihr gar nicht recht gewesen, so etwas wie ein Alleinmädchen zu beschäftigen, das zudem noch imHause lebte. Aber Sören hatte darauf bestanden, und Tilda hatte sich schnell an die Vorteile gewöhnt. Außerdem war Agnes trotz ihrer jungen Jahre eine hervorragende Köchin und kannte die Plätze, wo man wirklich frische Waren zu einem erträglichen Preis erstehen konnte.
Sie selbst war eine dieser tragischen Gestalten, wie sie Sören häufig genug vor Gericht vertrat. Durch Armut bedingter Diebstahl, Anzeige, Prozess. Tatsächlich hatte er damals ihr Mandat übernommen, gegen ihre Verurteilung konnte er jedoch nichts unternehmen. Sie hatte sich einfach zu dumm angestellt. Vielleicht war es diese unschuldige Naivität gewesen, die irgendeinen Schutzinstinkt in ihm geweckt hatte. Jedenfalls beglich er ihre Strafe aus eigener Tasche und gab ihr zudem die Möglichkeit, ihre Schulden mit anständiger Arbeit in seinem Haus abarbeiten zu können. Zusätzlich sorgte er dafür, dass sie Gelegenheit erhielt, so etwas wie eine Ausbildung zu absolvieren. Den Kontakten seiner Mutter war es schließlich zu verdanken gewesen, dass Agnes neben der Arbeit im Hause Bischop eine halbtägliche Stelle in der Kleinkinderbewahranstalt in Eimsbüttel bekam. Wenn Ilka aus dem Gröbsten heraus war, würde sie ihr Auskommen haben.
«Ich erhielt soeben eine Nachricht …» Agnes war völlig außer Atem. «Es handelt sich um Ihren … Ihren Sohn.» Sie tat sich immer noch schwer mit dem Umstand, dass David nicht das leibliche Kind ihrer Herrschaften war. Wohl auch, weil David etwa in ihrem Alter war, fiel ihr das Wort Sohn schwer.
«Was ist mit David?», fragte Sören. «Er kommt doch erst in zwei Tagen.»
«Wenn es nur das wäre, Doktor Bischop. Man sagte mir, er sei verhaftet worden.»
«Verhaftet?»
«Ja», schluchzte Agnes aufgeregt.
«Was wirft man ihm vor?»
Sie blickte ihn ängstlich an. «Er soll …, er soll …» Plötzlich schossen Tränen aus ihren Augen. «Er soll einen Mann erschlagen haben.»
In Untersuchungshaft
Was um alles in der Welt machte David schon jetzt in Hamburg? Und warum wusste er nichts davon, dass er in der Stadt war? Wie lange war er überhaupt schon hier? Vor lauter Fragen, die Sören durch den Kopf gingen, kam er gar nicht dazu, zu überlegen, was eigentlich geschehen war. Er hatte kaum Informationen darüber erhalten, was man David vorwarf, und es machte keinen Sinn zu spekulieren. Er würde es in der nächsten Stunde schwarz auf weiß vor sich haben.
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