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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Zivil gekleidet,und wenn doch mit Pickelhaube und Uniform, dann hoch zu Ross, aber nie auf einem Rad.
    Auch heute blieb Sörens kleines Vergehen ungeahndet, und er erreichte die Straße Bei den Kirchhöfen ohne Zwischenfälle. Das Untersuchungsgefängnis ließ er zunächst auf der Linken liegen und radelte weiter zum Strafjustizgebäude, auf dessen gegenüberliegender Seite sich das Pendant für zivile Angelegenheiten schon seit mehr als drei Jahren im Bau befand. So, wie es aussah, war mit einer Fertigstellung auch in diesem Jahr noch nicht zu rechnen. An das entsprechende Gedränge im Gerichtshof hatten sich mittlerweile alle gewöhnt, man hatte zwei ganze Flure und zwei Verhandlungssäle vorübergehend abtreten müssen. Das Provisorium dauerte nun schon so lange, dass eigentlich niemand mehr mit einer Änderung rechnete. Heute empfand es Sören das erste Mal als vorteilhaft, dass aufgrund der beengten Platzverhältnisse bestimmte Angelegenheiten und Verfahren selbst an Sonn- und Feiertagen abgehandelt werden mussten.
    Wie immer herrschte reger Betrieb im Landgericht. Als Erstes steuerte Sören das Vorzimmer von Direktor Fohring an. Bei einem Tötungsdelikt war es mehr als wahrscheinlich, dass sich gleich die Große Strafkammer mit dem Fall befasste. Und mit einer schriftlichen Bewilligung des Präses der Kammer waren alle weiteren Formalitäten ein Kinderspiel.
    Sören hatte Glück. Nach einer knappen Stunde hatte er alles beisammen, was er benötigte. Einen offiziellen Bericht gab es noch nicht, dafür waren die Geschehnisse zu jung. Auch eine Anklageschrift war noch nicht verfasst worden, aber zumindest den vorläufigen Polizeibericht hatte er einsehen dürfen. Demnach saß David ganz gehörig in der Patsche.
    «Wieder zu Loose?» Der Hauptwärter am großen Tor des Untersuchungsgefängnisses warf Sören einen fragenden Blick zu und deutete im gleichen Atemzug auf das Besucherbuch auf dem Tisch.
    Sören schüttelte den Kopf. «Nein, heute nicht.» Er trug Namen und Anliegen in die entsprechenden Spalten ein. Der Wärter kannte ihn gut, und so brauchte Sören sich nicht auszuweisen. Vergangene Woche war er das letzte Mal hier gewesen. Bei besagtem Loose, den er vertrat. Olaf Loose war Elektrotechniker in einer Reparaturwerkstatt der Hamburg-Amerika Linie, einer galvanischen Anstalt, die für das Ver- und Entsilbern von Leuchtern, Bestecken und ähnlich kostbaren Ausrüstungsstücken auf den Schiffen der Reederei zuständig war. Man warf ihm vor, unter der Hand große Mengen Reinsilber veräußert zu haben, was er abstritt. Seiner Aussage nach sei ihm zwar klar gewesen, dass bestimmte Arbeiten und Vorgänge nicht rechtens gewesen sein konnten, aber er habe im Auftrag seines Werkmeisters gehandelt, der ihm anderenfalls mit Entlassung gedroht habe. Der stritt alles ab. Eine gewisse Mitschuld war nicht von der Hand zu weisen, aber in erster Linie ging es darum, ob Loose Anstifter oder Verführter war. Seit mehr als fünf Monaten saß Loose in Untersuchungshaft. Ihm drohte, sollte er wegen Hehlerei verurteilt werden, eine empfindliche Haftstrafe sowie mindestens zwei Jahre Ehrverlust. Der Werkmeister des Betriebes arbeitete hingegen unbehelligt weiter und bezog ein Jahresgehalt von 2500   Mark.
    «Ein Verwandter von Ihnen?», fragte der Wärter und runzelte eine Augenbraue, als er den Namen des Häftlings mit der Haftliste verglich.
    «Ja, leider», meinte Sören, und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er gerade dabei war, einen Kodex seinerZunft zu missachten: Man vertrat niemanden vor Gericht, der einem nahesteht. Aber so weit war es ja noch gar nicht. Das mahlende Geräusch des großen Schlüssels, mit dem der Wärter das Schloss der eisernen Gittertür freigab, holte ihn in die Gegenwart zurück. Vor ihm öffnete sich einer der trostlosen langen Gänge mit unzähligen Zellentüren. Sören kannte den Anblick nur zu gut, aber es war das erste Mal, dass es ihn schmerzte.
    Er erschrak, als man David hereinführte. Weniger wegen der Hand- und Fußfesseln, die man ihm umgelegt hatte; das war hier Vorschrift, wenn Gefangene aus den Zellen in die Besprechungszimmer gebracht wurden. Nein, David sah schrecklich aus, müde und übernächtigt. Haare und Bart wirkten ungepflegt. Er blickte verlegen auf den Boden.
    «Keinen Körperkontakt mit den Inhaftierten», brummte der Wärter Sören mahnend an, als er David zu nahe kam.
    «Ich weiß schon», fauchte Sören zurück und setzte sich auf den Stuhl an der gegenüberliegenden

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