Die Schattenträumerin
Buch …«
»Schnell, Sie müssen mit mir kommen«, stieß Rafael aufgeregt aus. »Auf der Baustelle der Procuratie Nuove ist eine Statue, die lebendig geworden ist und mich angegriffen hat.«
Er zog den Wächter am Arm, doch der rührte sich nicht von der Stelle. Zuerst blinzelte er Rafael nur verständnislos an, doch dann verdunkelte sich sein Gesicht.
»Verschwinde, Junge! Ich habe keine Zeit für solche Kindereien«, schnauzte er ihn unfreundlich an.
»Sehen Sie, die Statue hat mich sogar verletzt.« Rafael deutete auf sein blutdurchtränktes Hemd und merkte, dass seine Hände vor Nervosität zitterten. »Das Wesen hat gesagt, es sei der Fluch, der heute Nacht über Venedig ausgesprochen worden ist. Das Ding ist gefährlich! Sie müssen es bekämpfen, festnehmen, vernichten …« Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern.
Plötzlich war ihm bewusst geworden, wie unsinnig und verrückt das alles klang.
»Verschone mich mit deinen dummen Märchengeschichten!«, donnerte der Wächter. »Was hast du nur für Eltern, dass sie dir nicht beigebracht haben, den Toten Respekt zu zollen?« Er hob seinen Blick und sah auf etwas, das direkt hinter Rafael sein musste.
Langsam wandte er sich um. Rafael hätte nicht gedacht, dass ihn nach den Erlebnissen dieser Nacht noch etwas schockieren könnte, doch er hatte sich getäuscht.
Er war so auf den Wächter fixiert gewesen, dass er alles andere überhaupt nicht mehr wahrgenommen hatte. Genau zwischen den Granitsäulen, dort, wo Sofia und er den Sonnenaufgang hatten ansehen wollen, erblickte er nun die leblosen Körper zweier Männer. Wie Schlachttiere waren sie an den Beinen aufgehängt, die seelenlosen Augen weit aufgerissen, starrten sie dem unbekannten Schrecken des Todes entgegen. Ihre Münder waren geöffnet wie zu einem Schrei. Erst auf den zweiten Blick erkannte Rafael, dass man ihnen einen Lappen in den Mund gestopft hatte, um genau dies zu verhindern. Auf diese Weise ließ der Rat nur Hochverräter hinrichten.
Unwillkürlich trat Rafael einen Schritt zurück. Nun wurde ihm klar, weshalb sich so viele Menschen hier versammelt hatten. Der Rat der Zehn hatte diese Hinrichtung heimlich veranlasst, mitten in der Nacht. Das war bisher noch nie vorgekommen. Was konnten diese beiden Männer nur verbrochen haben, dass der Rat sich über jegliches Gesetz hinweggesetzt hatte? Und nicht nur das. Die zerrissenen Hemden und die Brandnarben auf ihrer Haut zeugten davon, dass die beiden vor ihrem Tod gefoltert worden waren. Der Anblick des einen Toten, vor dem der Mann mit Namen Bartolomeo kniete, schreckte Rafael besonders ab. Er trug die teure Kleidung eines Edelmannes, trotzdem wirkte er mit seinen eingefallenen Wangen und den tief liegenden Augenhöhlen so ausgezehrt, als habe er seit Wochen nichts gegessen. Obwohl sein Gesicht zum größten Teil von strähnigen Haaren bedeckt war, erkannte Rafael, dass es selbst noch im Tod von tiefem Hass und Verbitterung gezeichnet war.
Der nächtliche Fluch, das Wesen mit der Pestmaske und die geheime Hinrichtung – unwillkürlich fragte sich Rafael, ob dies alles miteinander in Verbindung stand. Unglücklich sah er zu Boden. Wahrscheinlich würde er niemals eine Antwort auf diese Frage finden. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass dieses Wesen, auf das er in der Procuratie Nuove gestoßen war, gefährlich war.
Er warf einen letzten Blick auf den Wächter, der sich wieder über den verzweifelten Mann zu Füßen der beiden Toten gebeugt hatte. Rafael erkannte, dass der Wächter ihm nie Glauben schenken würde. Niemand würde ihm dieseGeschichte je abnehmen und er würde nichts tun können, um daran etwas zu ändern.
Rafael spürte, wie sich eine zierliche, klebrige Hand in die seine schob.
»Lass uns gehen! Ich bringe dich nach Hause.«
Überrascht sah er auf. Es war Sofia!
Er erinnerte sich daran, dass er ihr eigentlich hatte Vorwürfe machen wollen. Nach allem, was sie getan hatte, hatte er allen Grund dazu, wütend auf sie zu sein. Doch Rafael beließ es bei einem stummen Kopfnicken. Er fühlte sich plötzlich so erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben und eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich seiner. Er ließ sich von Sofia durch die Menge ziehen und unbehelligt schlugen sie den Weg zu seinem Zuhause ein, wo ihn seine Eltern voller Ungeduld und Sorge erwarteten. Natürlich glaubten sie Rafael kein Wort von seiner Geschichte. So wie fast alle, denen er in den folgenden Jahren die Vorkommnisse jener
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