Die Schattenträumerin
seine Füße trugen, davon.
Er musste Hilfe holen! Er musste die anderen warnen. Wenn überhaupt konnten allein die Wächter das Wesen überwältigen und Venedig vor dieser Kreatur beschützen.
In einem wilden Slalom bahnte sich Rafael seinen Weg durch die Stützbalken und Gerüste, schlitterte auf dem sandbedeckten Boden und fing sich wieder. Wenn er versehentlich gegen eines dieser Hindernisse lief, wäre er verloren. Der Ausgang schien noch so unendlich weit entfernt …Hektisch sah Rafael über die Schulter. Das Wesen war dicht hinter ihm! Obwohl es ihm mit ruhigen, gemächlichen Schritten folgte, schien der Abstand immer geringer zu werden.
Er bekam Seitenstechen. Doch er biss die Zähne zusammen und rannte um sein Leben. Da – wie ein himmlisches Tor tauchte vor ihm der Ausgang auf! Nur noch wenige Schritte, dann hätte er es geschafft. Schon glaubte er, die Krallen der Kreatur an seiner Schulter zu spüren.
Mit letzter Kraft stieß sich Rafael vom Boden ab und flog förmlich durch den Ausgang ins rettende Tageslicht.
»Hilfe, Hil…«
Das Wort erstarb auf seinen Lippen. Der Markusplatz war menschenleer. Aber das konnte nicht sein, nicht um diese Uhrzeit! Rafael fuhr sich über die Augen. Er musste den Verstand verloren haben, eine andere Erklärung gab es nicht!
Er rappelte sich auf und wandte sich nach allen Seiten. Keine Wachen, keine Beamten, keine Käufer, die mit den Händlern um einen besseren Preis feilschten – alles lag verlassen vor ihm. Selbst von dem kahlköpfigen Händler, der Rafael eben noch bis in die Baustelle verfolgt hatte, war keine Spur zu sehen.
Hastig fuhr er zum Ausgang der Baustelle herum. Das Wesen war ihm nicht nach draußen gefolgt! Rafael glaubte jedoch, das wütende Funkeln seiner Augen aus dem dahinter liegenden Dunkel zu erkennen. Rückwärts laufend entfernte er sich. Erst als er schon mitten auf dem Markusplatz stand, wagte er es, sich umzudrehen. Nun endlich nahm er ein vielstimmiges Gemurmel wahr, das aus der Richtungdes Dogenpalastes zu kommen schien. Er bog um den Campanile nach rechts und lief direkt in eine aufgeregte Menschenmenge hinein. Alle Gesichter waren auf die beiden Granitsäulen gerichtet. Auf der linken thronte der geflügelte Löwe, auf der rechten stand das Abbild des heiligen Theodors. Rafael stellte sich auf die Zehenspitzen, doch er sah nichts außer einem Meer von Köpfen. Was ging da vorne nur vor sich?
In der vordersten Reihe entdeckte er schließlich den hochgewachsenen Wächter. Rafael musste unbedingt zu ihm! Es war ihm egal, dass er dabei Gefahr lief, von dem kahlköpfigen Händler entdeckt zu werden. Sollten sie ihn doch festnehmen und verhaften, ihm war jetzt nur eines wichtig: Er musste dringend jemandem von dieser Kreatur berichten!
Rafael arbeitete sich durch die Menge. Immer wieder wurde er angerempelt oder jemand stieß an seine verletzte Schulter, sodass ihm vor Schmerz die Tränen in die Augen traten.
»… ohne eine Gerichtsverhandlung, ohne ein öffentliches Urteil!«, schnappte er im Vorübergehen auf. »Der Rat der Zehn hat die beiden gestern Abend abgeholt und in der Nacht kurzen Prozess mit ihnen gemacht.«
Rafael runzelte die Stirn. Es musste sich um etwas Ernstes handeln, wenn der Rat der Zehn seine Finger im Spiel hatte. Der Rat war in der ganzen Stadt gefürchtet. Überall hatte er seine Spione und wenn der Rat von jemandem erfuhr, der eine Gefahr für Venedig darstellte, wurde er augenblicklich festgenommen.
»Dann war es heute Nacht doch kein Verrückter, wie der Wächter behauptet hat! Ich wusste es doch: So schreit nur jemand in blanker Todesangst.« Es war die Frau mit dem Mondgesicht, an der sich Rafael gerade vorbeischob. »Weißt du, wer die beiden sind?«, fragte sie, an einen älteren Mann gerichtet.
»Einer von ihnen soll ein Bankier aus Florenz gewesen sein, der hier in Venedig gelebt hat«, antwortete dieser. »Aber das kann ich nicht glauben. Selbst der Rat der Zehn würde es nicht wagen, mit einem Adligen so zu verfahren!«
Endlich erreichte Rafael die vorderste Reihe und sah sich fluchend um. Er hatte den Wächter aus den Augen verloren! Schließlich entdeckte er ihn, wie er sich über einen Mann gebeugt hatte, der mit bebenden Schultern auf dem Boden kniete.
»Bartolomeo, so beruhigen Sie sich doch!«
Der Mann sah mit tränenüberströmtem Gesicht zu dem Wächter auf. »Es ist meine Schuld! Sein Tod ist allein meine Schuld. Hätte ich nicht …« Seine Stimme erstarb. »Dieses verfluchte
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