Die Schattenträumerin
dünnen Sohlen seiner Stiefel klatschten laut über das Pflaster der Piazza.
Doch Rafael hatte wertvolle Sekunden verloren. Schon spürte er an seiner linken Schulter die Fingerspitzen des Händlers, die versuchten, nach ihm zu greifen. Er lief nach rechts – und erkannte zu spät, dass dies ein Fehler gewesen war! Anstatt Sofia in das schützende Gewirr der Gassen zufolgen, wo der Händler sicherlich schnell seine Spur verloren hätte, rannte er nun auf den Vorplatz der Basilika zu und somit in eine sichere Falle.
Auch der Händler schien dies zu bemerken, denn er stieß einen Laut des Triumphes aus und eilte ihm mit weit ausholenden Schritten hinterher. Rafael biss die Zähne zusammen und rannte so schnell, wie er noch nie in seinem Leben vor etwas davongelaufen war. Geschickt sprang er über einen Stapel Holzbretter, die unweit der Baustelle der Procuratie Nuove abgelegt waren. Natürlich, durchfuhr es Rafael schlagartig, die Baustelle war womöglich seine einzige Chance!
Wieder schlug er einen Haken und sauste durch die Absperrung auf den verlassenen Bau zu, der bald der zweite Sitz des immer größer werdenden Amtsapparates der venezianischen Behörden werden sollte. Die unfertigen Außenmauern ragten in den Morgenhimmel, die fensterlosen Öffnungen starrten verschlafen auf den Markusplatz. Rafael schlängelte sich durch mehrere Sand- und Kieshaufen, sorgsam aufgestapelte Steinquader und weitere Holzbalken. Das Betreten der Baustelle war verboten, doch er hatte nun nichts mehr zu verlieren. Im selben Moment, als die Marangona-Glocke zum Sonnenaufgang läutete, schlüpfte er durch eine Türöffnung. Die Ausgangssperre war aufgehoben, allerdings verbesserte dies Rafaels augenblickliche Lage kein bisschen.
Hinter sich hörte er den Händler fluchen. Diesen Schachzug des Jungen hatte er wohl nicht vorhergesehen. Rafael erlaubte sich ein kurzes Lächeln.
Das Licht des herannahenden Morgens reichte noch nicht in das Innere des lang gezogenen Gebäudes hinein. Er musste sein Tempo drosseln, ehe sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er gefahrlos zwischen einem Hindernis und einem harmlosen Schatten unterscheiden konnte. Das Gerippe aus Balken und Stützstreben erinnerte Rafael an das Innere eines toten Wals. Langsam tastete er sich vorwärts und hielt Ausschau nach einem geeigneten Versteck. Sicherlich musste der Händler bald wieder zu seinem Stand zurückkehren und würde sich nicht die Mühe machen, die riesenhafte Baustelle nach ihm zu durchsuchen. Dann musste Rafael nur noch abwarten, bis sich der Markusplatz wie jeden Tag mit Beamten, Adligen, Bankiers, Handelsreisenden und Seeleuten gefüllt hatte, sodass er sich im Schutze der Menschenmenge unerkannt nach Hause flüchten konnte. Wenn es nur schon so weit wäre! Rafael schwor sich, dass er nie wieder ein Gebot seines Vaters missachten würde, wenn er dieses unglückselige Abenteuer unbeschadet überstand.
Am Eingangsbereich ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von dem jaulenden Schmerzenslaut eines Mannes. Rafael verfluchte leise die Hartnäckigkeit, mit der dieser Händler ihn verfolgte. Er musste sich schnell ein Versteck suchen! Hastig bahnte er sich einen Weg durch den Balkenwald und erreichte die gegenüberliegende Wand des Gebäudes. Dort lief er direkt in die mannshohe Statue eines venezianischen Arztes, das jedenfalls schloss Rafael aus der auffallenden Pestmaske, die das Gesicht der Statue verdeckte und selbst im Halbdunkel zu erkennen war. Wahrscheinlich sollte siean die große Pestwelle erinnern, die Venedig im letzten Jahrhundert heimgesucht hatte. Rafaels Eltern hatten ihm erzählt, dass die venezianischen Ärzte während der Pest im Inneren dieser raubvogelartigen Masken Kräuter verbrannt hatten, um sich damit vor einer Ansteckung zu schützen. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn beim Anblick der Statue, doch da er keine andere Wahl hatte, kauerte er sich in ihren Schatten.
»Ich weiß, dass du hier drin bist, Bürschchen!«, hallte die Stimme des Händlers durch das leere Gebäude. »Gib mir sofort mein Geld zurück!«
Rafaels Herz klopfte ihm bis zum Hals. Die Stimme klang viel näher, als er gedacht hatte. Sein Körper versteifte sich und er atmete so flach wie möglich, um sich nicht mit der kleinsten Bewegung zu verraten.
»Komm raus, du elender Dieb!«
Schritte näherten sich seinem Versteck und hielten einen Moment inne.
»Was für eine grässliche Statue«, murmelte der Händler. »Und für so etwas zahle ich
Weitere Kostenlose Bücher