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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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befestigen. Mit Brettern errichteten sie Sperren gegen die Lagune und schöpften den Innenraum frei. Dann schlugen sie mit einer Handramme zwei Meter lange Eichen- und Erlenpfähle in den Boden und füllten die Zwischenräume mit Schlick und Lehm. Danach mussten die Pfähle wieder vollständig mit Wasser bedeckt sein, um eine Verwitterung …«
    Francesca gähnte nun ebenfalls. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und musste einen freudigen Aufschrei unterdrücken:Endlich, sie hatten das Meer erreicht! Wo eben noch graue Vorstädte, Fabriken und regennasse Straßen zu sehen waren, tanzten nun die Wellen der Lagune so unruhig auf und ab, als würden sie sich jeden Moment über die Brücke erheben und den Zug mit sich in die dunkle Tiefe des Meeres spülen. Unzählige Male war Francesca schon die fast vier Kilometer lange Ponte della Libertà, die Brücke der Freiheit, nach Venedig entlanggefahren, allerdings nie zu dieser Jahreszeit. Noch bei ihrer letzten Reise vor wenigen Monaten hatte der Sonnenschein auf die grünblauen Wellen goldene Sterne gemalt, die Francesca wie zur Begrüßung angefunkelt hatten. Nun schien das Meer seine Farbe verloren zu haben, verblasst wie abgestorbenes Laub. Die Wellen, der Himmel, die Wolken – alles war grau und düster. Unwirklich. Francesca konnte nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. Heute hatte sie nicht das Gefühl, willkommen geheißen zu werden. Eher, dass Venedig sie mit diesem ungastlichen Empfang zum Umkehren überreden wolle.
    Francesca versteckte ihre kalte Nasenspitze in ihrem Schal. Die Heizung des Abteils war scheinbar nicht für solch bitterkalte Wintertage gemacht. Der Zug, der im Sommer mit Touristen und Pendlern brechend voll war, brachte heute nur wenige Menschen nach Venedig. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, nicht unbedingt die Zeit, der Stadt der Romantik und Liebe einen Besuch abzustatten.
    Francesca seufzte wehmütig auf. Eigentlich hätte sie wie jedes Jahr mit ihrer Mutter im Skiurlaub in der Schweiz sein sollen. Nicht, dass Francesca ein großer Fan dieses Sports gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hielt sie sichmehr schlecht als recht auf den Brettern und wunderte sich jedes Mal, wenn sie am Fuße des Berges angekommen war, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hatte. Trotzdem freute sie sich jedes Jahr auf diesen Urlaub, da sie ihre Mutter zwei Wochen für sich allein hatte. Francesca liebte die Momente, wenn es draußen schneite, sie gemeinsam vor dem knisternden Kaminfeuer saßen, Karten spielten oder aneinandergekuschelt in einem Buch lasen. Dieses Jahr jedoch hatte ihre Mutter ihr kurz vor Heiligabend mitgeteilt, dass der Urlaub ausfallen müsse, weil sie als frischgebackene Leiterin der Übersetzungsabteilung bis zum Jahreswechsel noch wichtige Dinge abzuarbeiten habe. Auch wenn Francesca enttäuscht darüber war, konnte sie dennoch Verständnis aufbringen – immerhin war ihre Mutter alleinerziehend und auf den Job angewiesen. Doch für Francescas Geschmack war ihre Mutter nach Großmutter Fiorellas Anruf nur allzu schnell bereit gewesen, sie umgehend in den nächsten Zug nach Venedig zu setzen. Sie hatte das Gefühl, dass es ihrer Mutter ganz recht gewesen war, sich für eine Weile nicht um sie kümmern zu müssen.
    Als ob ich ihr ein Klotz am Bein wäre, dachte sie missmutig.
    Der Mann neben Francesca rammte ihr seinen Ellenbogen in den Arm und sie schreckte aus ihren trüben Gedanken hoch.
    »Entschuldigung«, murmelte er. »Scusa!«, setzte er unsicher hinzu, da Francesca ihn im ersten Moment verständnislos anblinzelte.
    »Non c’è problema«, gab sie automatisch auf Italienischzurück. Ehe sie ihm noch einmal auf Deutsch antworten konnte, hatte er sich jedoch wieder abgewandt und hob das Buch, das ihm aus den Händen gefallen war, vom Boden auf.
    »In den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung wurde Venedig nicht nur eine der schönsten Städte Europas«, dozierte er weiter und rückte dabei seine Brille zurecht, »sondern auch eine der einflussreichsten und mächtigsten. Sie wurde zum Knotenpunkt der Weltwirtschaft, die Venezianer kontrollierten die Seewege im östlichen Mittelmeer und …«
    Francesca wollte sich schulterzuckend abwenden, als ihr Blick auf den Jungen, Frederick, fiel. Seine Augen waren nun vollständig zugefallen, sein Mund stand weit offen und sein Kopf kippte langsam, aber sicher zur Seite. Francesca betrachtete ihn mitleidig und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Sein Vater sah sicherlich

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