Die Schattenträumerin
Polo venezianische Legenden nachgespielt hatte. Bei näherer Betrachtung sahen die Sternenaugen des Mannes auch gar nicht mehr so unheimlich aus. Der Bereich um die Augen war mit weißer Farbe getüncht worden, die vom Mondschein reflektiert wurde.
Der alte Mann nahm einen großen Schluck aus einer Flasche, die er unter seinem Umhang hervorgezogen hatte.
»Kinder haben um diese Uhrzeit hier draußen nichts verloren«, meinte er. »Das kann gefährlich sein. Man weiß nie, wem man nachts in den Gassen über den Weg läuft!« Er nahm noch einen weiteren Schluck, ehe er die Flasche zustöpselte. »Der Geist des blinden Dogen macht sich jetzt auf den Heimweg und schläft seinen Rausch aus«, murmelte er und ließ die Flasche wieder unter seinem Umhang verschwinden.
Ohne ein weiteres Wort schlurfte er davon, doch sein schadenfrohes Gelächter hallte noch eine Zeit lang durch die Gasse.
»Du bist vielleicht ein Angsthase!«, höhnte Sofia.
Abrupt zog sie ihre Hand zurück. Rafaels Arm brannte an der Stelle, wo sich ihre Fingernägel noch vor wenigen Augenblicken voller Angst in seine Haut gekrallt hatten.
»Ich?«, echote er ungläubig. »Du hast doch gesagt, dass Dandolos Geist vor uns steht.«
»Das habe ich doch nicht ernst gemeint!«, behauptete sie voller Empörung. »Ich wusste sofort, dass der Geist nicht echt ist.«
Rafael seufzte auf und schüttelte ergeben den Kopf. Er kannte Sofia gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinnhatte, ihr zu widersprechen. Sie würde niemals zugeben, dass sie genau wie Rafael auf den betrunkenen Schauspieler reingefallen war.
Er tröstete sich damit, dass er diese unheimliche Begegnung vielleicht für eine seiner Geschichten nutzen konnte. Alles, was ihm wichtig erschien oder ihn faszinierte, schrieb er auf. Für Rafael waren die dicht beschriebenen Seiten, die er in seinem Zimmer unter einer losen Bodendiele versteckte, wie sein eigener, ganz geheimer Schatz. Niemand, noch nicht mal seine Eltern oder Sofia wussten davon.
Das Mädchen erhob sich. »Komm, wir gehen!«
Rafael blinzelte sie verwirrt an. »Jetzt? Aber es ist doch noch dunkel!«
»Aber nicht mehr lange!«
Tatsächlich war es in den letzten Minuten unmerklich heller geworden. Rafael warf einen Blick auf den Nachthimmel, der sich über ihnen zwischen den eng stehenden Häusern wie ein Aal schlängelte. Die Sterne verblassten, das Schwarz des Himmels hellte sich auf.
»Wir gehen zur Piazza San Marco und sehen uns den Sonnenaufgang an!« Der Tonfall, in dem Sofia dies sagte, klang eher nach einem Befehl als nach einem Vorschlag.
»Die Piazza ist am anderen Ende der Stadt«, stöhnte Rafael auf. »Es wird ewig dauern, bis wir dort sein werden.« Er war müde und fühlte sich durch den kurzen Schlaf auf dem harten Boden wie gerädert.
»Aber es lohnt sich! Wenn nämlich der erste Sonnenstrahl auf den Markuslöwen fällt und das Morgenlicht seine Mähne vergoldet, kann man sein tiefes Grollen hören.«
Die Statue des Markuslöwen stand auf einer riesigen Granitsäule direkt am Canal Grande, dem größten Kanal Venedigs, und war das Wahrzeichen der Stadt. Rafael liebte diesen geflügelten Löwen. Das Tier thronte dort oben so majestätisch und kraftvoll über der Stadt, dass Rafael immer das Gefühl hatte, ein Teil seiner Macht ginge auf ihn über, wenn er lange genug zu seinen Füßen stand.
»Wirklich? Man hört sein Grollen?«, entfuhr es ihm begeistert. Schon einen Moment später hätte er sich für seine Reaktion ohrfeigen können. Er würde Sofias fantastischer Geschichte doch keinen Glauben schenken! Allerdings hatte er noch nie einen echten Löwen gesehen und ein wohliger Schauer durchlief ihn bei der Vorstellung, sein Grollen hören zu können …
Rafael stand auf, zog trotz der Kälte seine Jacke mit dem Judenkreis aus und klemmte sie sich unter den Arm. »Also gut«, stimmte er Sofias Vorschlag zu. »Auf zur Piazza!«
Sie huschten durch die Gassen, versteckten sich in dunklen Hauseingängen und lugten vorsichtig um die Ecken, ehe sie über einen Campo eilten. Manchmal erinnerte Rafael die Stadt an das runzlige Gesicht einer alten Dame, das ohne erkennbares Muster von zahlreichen Falten und Kerben gezeichnet war – denn ebenso zogen sich die vielen schmalen Wege und abzweigenden Quergassen durch Venedig. Die meisten Reisenden verliefen sich in diesem Wirrwarr der Gassen und nachts hörte man des Öfteren ein lautes Klatschen und Fluchen, wenn jemand ein unfreiwilliges Bad in einem Kanal nahm,
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