Die Schattenträumerin
weil er in der Dunkelheit die falsche Abzweigung genommen hatte.
»Auf der Rialto-Brücke sind keine Wachen zu sehen«, raunte Sofia ihm über ihre Schulter hinweg zu.
Geduckt schlich sie voraus, mit vor Begeisterung gerötetem Gesicht. Für Sofia schien dies eher ein Spiel zu sein, für Rafael jedoch war es bitterer Ernst. Nervös nahmen seine Augen jede noch so kleine Bewegung wahr, selbst wenn sie nur von einer Wasserratte verursacht worden war. Er spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Sein Bauchgefühl riet ihm entschieden von ihrem Vorhaben ab. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, wenn er bis zum Sonnenaufgang in ihrem Versteck geblieben wäre!
Unwillkürlich musste er an seinen Vater denken. Er hatte Rafael eigentlich verboten, sich mit dem frechen und aufmüpfigen Mädchen aus dem Waisenhaus zu treffen. Aber Sofia sprühte immer vor Ideen und verrückten Einfällen und Rafael hatte bisher jede Sekunde, die er mit ihr verbracht hatte, genossen. Mit ihren zerzausten Haaren, der gebräunten Haut und den grün blitzenden Augen war sie so anders als alle Mädchen, die er kannte. Aber vielleicht hatte sein Vater recht mit seiner Behauptung, dass dieses Mädchen ihm nur Unglück bringen würde …
Sie tauchten aus einem schmalen Durchgang ins Freie, frische Seeluft strich Rafael über das Gesicht. Vor ihnen lag die Piazza San Marco, der Markusplatz. Wie jedes Mal raubte der Anblick Rafael für einen Moment den Atem. Im Zwielicht des herannahenden Morgens erkannte er den mächtigen Schatten des Campanile, des fast hundert Meter hohen Glockenturms, die Kuppeln der Basilika, den direkt dahinter liegenden Dogenpalast und die Masten der zahlreichenHandelsschiffe, die nicht weit davon entfernt im Canal Grande vor Anker lagen. Nachdem man am Fuße der hohen, dicht gedrängten Häuser der Altstadt wie durch einen Tunnel gelaufen war, beeindruckte vor allem die Größe des Platzes, die selbst jetzt im Halbdunkel spürbar war. Rafael blieb bezaubert stehen. Noch nie hatte er den Markusplatz zu dieser Stunde gesehen. Der Himmel, nun von einem tiefen Dunkelblau, zog sich wie eine göttliche Kuppel über die Piazza und die Sterne der Nacht verabschiedeten sich mit einem letzten Funkeln von diesem Ort der Schönheit. Er atmete tief die nach Salz und Algen riechende Luft ein und ein Gefühl unbändiger Freiheit durchströmte ihn.
Das Gefühl verflog jäh, als Sofia ihn eilig nach rechts zum Amtssitz der Prokuratoren zog und Rafael damit daran erinnerte, dass er auf der Hut sein musste. Das herrschaftliche Gebäude, Procuratie Vecchie genannt, besaß einen lang gezogenen Säulengang, in dessen Dunkelheit sie nun schlüpften.
Vorsichtig lugten die beiden hinter einer Säule hervor auf die Mitte des Platzes. Trotz der frühen Stunde waren schon die ersten Händler auf den Beinen, um ihre Marktstände aufzubauen und Obst, Gemüse, Fisch und Hühner, Gewürze und kandierte Früchte zum Verkauf zu richten. Die meisten von ihnen hatten sich jedoch zu einer kleinen Gruppe zusammengefunden, in deren Mitte sich auch zwei Wächter befanden, und diskutierten aufgeregt miteinander. Einer der Wächter schien noch recht jung zu sein, jedenfalls ließen seine Körperhaltung und seine dürre, hochgewachseneGestalt, die den stählernen Brustharnisch kaum ausfüllen konnte, darauf schließen. Der andere dagegen war von beeindruckender Statur. Er stand hoch aufgerichtet zwischen den Händlern, eine Hand lag locker am Knauf seines Schwertes. Beim Anblick der beiden schlug Rafaels Herz plötzlich so laut, dass er glaubte, die Wächter müssten es selbst über den Platz hinweg hören können.
»… ein unheimlicher Schrei. Mitten in der Nacht!«, konnte Rafael die Stimme eines weißhaarigen Händlers vernehmen. »Meine Frau hat solch einen Schreck bekommen, dass sie fast nicht mehr zu beruhigen war. Immer wieder meinte die Alte, sie hätte den Teufel schreien hören!«
Einige Männer stießen ein höhnisches Lachen aus, doch es klang sonderbar angespannt und nervös.
Der ältere der beiden Wächter hob in einer besänftigenden Geste die Hände. »Wahrscheinlich haben unsere Leute nur einen Dieb gefasst oder einen Betrunkenen aufgegriffen«, meinte er. »Wenn heute Nacht irgendetwas Besorgniserregendes geschehen wäre, dann hätte man uns sicherlich informiert.«
Doch sein Gegenüber, ein kahlköpfiger Händler in einem abgewetzten dunkelbraunen Wams, schüttelte den Kopf. »Ich habe das Schreien auch gehört«, widersprach er
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