Die Schatzinsel: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Himmel glühen, die Luft ganz regungslos sein, die Oberfläche des Meeres glatt und blau – und trotzdem rollten diese großen Wogen unaufhörlich an der ganzen Küste entlang, und ich glaube, es gibt auf der ganzen Insel kaum eine Stelle, wo einer das Tosen der Brandung nicht hören könnte.
Ich ging frohen Mutes an der Brandung entlang, bis ich glaubte, weit genug nach Süden gekommen zu sein, da ging ich in ein dichtes Gebüsch in Deckung und kroch vorsichtig bis zur Höhe der Landzunge hinauf.
Hinter mir lag die offene See, vor mir der Ankergrund. Die Seebrise hatte bereits aufgehört, wie wenn sie durch ihre außergewöhnliche Heftigkeit sich um so schneller ausgeblasen hätte; ihr war ein leichter, veränderlicher Wind von Süden und Südosten her gefolgt, der große Nebelschwaden vor sich her trieb, und der Ankergrund auf der Leeseite der Skelettinsel lag still und bleigrau da wie an dem Tage, als wir zuerst eingefahren waren. Die Hispaniola spiegelte sich auf der glatten Fläche von der Wasserlinie bis zur Mastspitze, an der der Jolly Roger schlaff herabhing.
An der Linksseite des Schiffes lag eine von den Gigs, auf deren Heckbank Silver saß – ihn konnte ich stets erkennen – während ein paar von den Piraten sich über das Bollwerk des Schiffes lehnten; einer von ihnen trug eine rote Mütze; es war derselbe Schurke, den ich ein paar Stunden vorher rittlings auf den Palisaden hatte sitzen sehen. Offenbar sprachen sie miteinander und lachten, doch konnte ich in der Entfernung, die mehr als eine Meile betrug, natürlich kein Wort von ihrem Gespräch hören. Plötzlich begann ein entsetzliches, unirdisches Kreischen; ich bekam einen fürchterlichen Schreck, doch fiel mir gleich darauf ein, daß es Silvers Papagei, Käpp’n Flint, sein müßte; ich glaubte sogar den Vogel an seinem bunten Gefieder zu erkennen, wie er auf dem Handgelenk seines Herrn saß.
Bald darauf stieß die Gig ab und ruderte nach dem Strande zu, und der Mann mit der roten Mütze und sein Kamerad gingen die Kajütstreppe hinunter.
Gerade zur selben Zeit war die Sonne hinter dem »Fernrohr« untergegangen, und da gleich darauf der Nebel sich zusammenballte, begann es schon dunkel zu werden. Ich sah, daß ich keine Zeit verlieren durfte, wenn ich das Boot noch an diesem Abend finden wollte.
Die weiße Klippe, die ich deutlich durch das Gebüsch sehen konnte, war noch ungefähr eine achtel Meile weiter draußen auf der Landzunge, und ich brauchte ziemlich lange Zeit, an sie heranzukommen, da ich mich durch die Gebüsche schleichen und oft genug auf allen Vieren kriechen mußte.
Es war beinahe finstere Nacht, als meine Hände den rauhen Fels berührten. Unmittelbar unter demselben befand sich eine ganz kleine grüne Rasenmulde, deren Ränder von etwa knietiefem Unterholz bedeckt waren, das an dieser Stelle sehr reichlich wuchs, und mitten in der Mulde sah ich richtig ein kleines Zelt aus Ziegenfellen, ähnlich wie die Zelte, mit denen die Zigeuner in England herumziehen.
Ich sprang in die Mulde hinab, hob die Seitenwand des Zeltes hoch und sah Ben Gunns Boot – eine richtige Hausarbeit: ein plumper Rahmen von zähem Holz, der mit Ziegenfellen überzogen war; die Haare waren nach außen gekehrt. Das Ding war winzig klein, selbst für einen Knaben wie mich, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß es einen ausgewachsenen Mann hätte tragen können. Es hatte eine einzige Ruderbank in der Mitte, eine Art Sperrholz im Bug und als Fortbewegungsmittel ein Doppelruder.
Ich hatte damals noch kein Korbboot gesehen, wie die alten Britannier sie machten; seitdem habe ich eins gesehen und kann von Ben Gunns Boot keine bessere Vorstellung geben, als indem ich sage, daß es aussah wie das erste und unbeholfenste Korbboot, das ein Mensch geschaffen hat. Aber den Hauptvorzug eines solchen Korbbootes oder Korakels besaß es allerdings: es war außerordentlich leicht und tragbar.
Da ich nun das Boot gefunden hatte, so möchte man vielleicht denken, ich wäre jetzt lange genug von meinem Posten fortgeblieben. Aber mittlerweile war ich auf eine andere Idee gekommen, die mir so ungeheuer verlockend schien, daß ich glaube, ich würde sie ausgeführt haben, selbst wenn Kapitän Smollett es mir ausdrücklich verboten hätte: ich wollte im Schutze der Dunkelheit mit meinem Korakel an die Hispaniola heranfahren, ihr Ankertau durchschneiden, und sie auf den Strand gehen lassen, wo sie Lust hatte. Ich war fest überzeugt, daß die Meuterer, nachdem sie
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