Die Schatzinsel: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
hinein. Zu meiner großen Freude fühlte ich das Kabel, das ich gepackt hielt, locker werden, und meine Hand tauchte für eine Sekunde in das Wasser hinein.
Da entschloß ich mich sofort, holte mein Matrosenmesser aus der Tasche, öffnete es mit meinen Zähnen und schnitt einen Strang des Ankertaues nach dem anderen durch, bis das Schiff nur noch von zwei Strängen gehalten wurde. Dann blieb ich ruhig liegen, um abzuwarten und diese beiden letzten Stränge erst durchzuschneiden, wenn die Spannung wieder durch einen neuen Windstoß gelockert würde.
Während dieser ganzen Zeit hatte ich von der Kajüte her laute Stimmen gehört; aber, die Wahrheit zu sagen, ich war so vollständig mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen, daß ich kaum darauf geachtet hatte. Da ich jetzt aber nichts anderes zu tun hatte, so begann ich etwas schärfer hinzuhören.
An der Stimme erkannte ich, daß der eine von den beiden Piraten der Schaluppmeister Israel Hands war, der früher Flints Kanonier gewesen war. Der andere war natürlich mein Freund mit der roten Nachtmütze. Die beiden Leute waren offenbar schwer betrunken, aber sie tranken immer noch weiter; denn während ich lauschte, öffnete einer von ihnen mit trunkenem Geschrei die Sternluke und warf etwas hinaus, ohne Zweifel eine leere Flasche.
Aber sie waren nicht nur bezecht, sondern offenbar auch in einem wütenden Streit begriffen. Es hagelte Flüche, und alle Augenblicke gab es einen solchen Wutausbruch, daß ich dachte, jetzt würde gleich die Prügelei losgehen. Aber jedesmal wurde der Streit für kurze Zeit wieder beigelegt, die schimpfenden Stimmen wurden leiser, bis die nächste Krisis kam, die dann auch wieder ergebnislos verlief.
Am Strande konnte ich das große Lagerfeuer brennen sehen, dessen warmer Schein durch die Bäume fiel. Irgendeiner von den Piraten sang ein altes Matrosenlied nach einer schleppenden Melodie mit einem langen Schnörkel am Ende jedes Verses; ein endloses Lied, das nur aufhörte, wenn der Sänger schließlich die Geduld verlor. Ich hatte es während der Überfahrt mehr als einmal gehört und erinnerte mich noch der Worte:
Nur ein einziger am Leben blieb
Von fünfundsiebzig Mann.
Ich dachte so bei mir selber, es sei eigentlich ein recht trübseliges Lied für eine Gesellschaft, die am Morgen so furchtbare Verluste gehabt hatte. Aber diese Piraten waren nach allem, was ich gesehen hatte, so gefühllos wie das Meer, über das sie fuhren.
Endlich kam die Brise; der Schoner kam im Dunkeln näher an mich heran; ich fühlte das Kabel wieder schlaff werden und schlug mit einem kräftigen Hieb die beiden letzten Stränge durch.
Der Ebbstrom trieb mich beinahe augenblicklich über das Bugspriet der Hispaniola. Gleichzeitig begann der Schoner sich langsam um sich selber zu drehen und mit der Strömung abzutreiben.
Ich paddelte wie ein Verzweifelter; denn ich erwartete jeden Augenblick, daß mein Boot kentern würde; und da ich fand, daß ich das Korakel nicht vom Schiff losbringen konnte, so suchte ich jetzt an den Stern der Hispaniola heranzukommen. Endlich war ich aus meiner gefährlichen Nachbarschaft heraus; aber gerade, als ich zum letzten Mal abstoßen wollte, berührten meine Hände ein dünnes Tau, das über die Sternschanzbrüstung der Hispaniola herunterhing. Augenblicklich packte ich es.
Warum ich das tat, kann ich kaum sagen. Anfangs handelte ich rein instinktiv; aber sobald ich das Tau in den Händen hatte und merkte, daß es fest hielt, begann meine Neugierde die Oberhand zu gewinnen, und ich beschloß, mal durch das Kajütenfenster hineinzusehen.
Ich zog mich mit den Händen an dem Tau hoch, und als ich nahe genug zu sein glaubte, wagte ich es, einen halben Klimmzug zu machen, so daß ich die Decke und ein Stück von dem Inneren der Kajüte übersehen konnte.
Mittlerweile glitten der Schoner und sein kleiner Begleiter ziemlich schnell durch das Wasser; wir befanden uns bereits auf gleicher Höhe mit dem Lagerfeuer. Das Schiff »redete laut«, wie die Seeleute das nennen, wenn die unzähligen kleinen Wellen unablässig gegen die Planken anklatschen; und erst als ich mein Auge über die Fensterbrüstung erhob, konnte ich begreifen, warum die beiden Wachtposten nichts gemerkt hatten. Aber ein einziger Blick genügte mir; übrigens durfte ich auch nur diesen einzigen Blick wagen, da das Korakel unter mir meinen Füßen keinen Halt bot. Dieser Blick zeigte mir Hands mit seinem Kameraden in einem Kampf auf Leben und Tod: sie hielten
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