Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
hatte, während der Bruder elend zugrunde gegangen war! Was für eine Zukunft konnte ein derart kränkliches und unerwünschtes Kind schon haben?
Er schickte sein Gefolge und die Familie hinaus, außer seiner Schwester Akme, die stets an seiner Seite blieb. Dann ließ er seinen persischen Astrologen kommen. »Wie lautet das Horoskop für meine jüngste Enkelin?«, fragte er ihn.
Der alte dunkelhäutige Mann in seinem nachtblauen Gewand trat vor den König und hielt ihm ein Pergament vor, auf dem Punkte und wirre Linien gezeichnet waren. »O König, mächtige Gestirne stehen zu dieser Stunde miteinander im Wettstreit. Ich deute Stärke und Zorn, List und Vernunft, Widerstand und Hingabe, doch ich kann nicht erkennen, welche Seite obsiegen wird. Sie wird zerrissen sein und Zerrissenheit bringen. Sie ist zu Großem geboren, doch mächtige Gegenkräfte stemmen sich gegen sie und könnten sie zu Fall bringen. Sie wird Unruhe erzeugen. Ihr schlimmster Feind ist sie selbst.«
Herodes lehnte sich zurück und blickte seine Schwester amüsiert an. »Endlich mal wieder eine typische Herodianerin.«
ERSTER TEIL
… und schütte Deinen Zorn über sie
1
Durch den Königspalast zog ein leichter Wind, der nach Frühling roch, und Salome lugte, nachdem sie die Gemächer ihrer Eltern verlassen hatte, zwischen zwei Säulen hindurch in den zartblauen Morgenhimmel. Von welchem Gang, welcher Säulenhalle und welcher Balustrade des erhöht stehenden Palastes man auch blickte, immer sah man in die Weite der Welt, und das gefiel Salome. Nach Norden, Süden und Osten dehnte sich die Stadt Davids und Salomos aus, die heute die Stadt des Herodes, ihres Großvaters, war: die Heilige Stadt Jerusalem. Aus der Menge der braunen und gelben Häuser ragten vereinzelt halbrunde Theater und ein ovales Amphitheater auf, ein Hippodrom, der Hügel Golgatha, die Festung Antonia und gleich daneben – alles überragend und gar nicht weit vom Palast entfernt – der Tempel des Einen Gottes, der in seinem weißen Marmor glänzte, als sei er aus Licht erbaut. Und diese ganze, wunderbare Stadt wurde von einer Mauer eingefasst wie ein Juwel von einem silbrigen Reif. Tausende Händler saßen am Rand der ungepflasterten Gassen und boten in großen Säcken ihre Waren feil: Weihrauch, Myrrhe und Zimt, Getreide, Feigen und Sharonfrüchte, Öl und Honig … An warmen Tagen zogen die Düfte bis zum Palast hinauf.
Nach Westen hingegen erstreckte sich die teils steinige, teils von Zedern bewaldete Hügellandschaft, die kein Ende zu haben schien. Von den Karten, die manchmal im Palast herumlagen, wusste Salome jedoch, dass sich irgendwo hinter diesen steinernen Wellen ein blaues Meer verbarg und dass sich an dessen Ufer Städte wie Perlen auf einer Schnur reihten, eine jede mit einem schöneren Namen als die andere: Askalon, Ashdod, Apollonia … Jeden Morgen verschwanden zwei oder drei Kamelkarawanen hinter den Hügeln, und nicht selten wünschte Salome, mit ihnen bis zum Meer reisen zu können.
Mehrere laute Trompetenstöße ließen Salome zusammenzucken. Nicht das Geräusch erschreckte sie, sondern seine Bedeutung. In diesem Moment wurde einem Lamm im Innenhof des Tempels die Kehle durchschnitten, sein Blut von den Priestern aufgefangen und der Altar damit bespritzt. Der Gedanke daran, dass eines der niedlichen Tiere, die sie auf Ausflügen in die Umgebung stets umarmte, vor Angst schreiend auf einem Marmorblock festgehalten wurde und in dem Moment verstummte, wo ihm der Schnitt … Ein weiterer Trompetenstoß erschallte. Sie hielt sich die Ohren zu, und als sie die Hände sinken ließ, hörte sie die Psalmgesänge der Gläubigen vom Tempel wie ein dunkles Murmeln herüberhallen.
Heute war passah , der Gedenktag zur Befreiung der Juden von der ägyptischen Knechtschaft. Jerusalem war voller Pilger, ebenso die Höfe des Tempels bis zu den Ausgängen. Aus ganz Judäa strömten die Juden herbei, auch aus Persien, Ägypten, Syrien und Armenien. Über der Heiligen Stadt trieb der schwere, modrige Gestank des Fettes, das den Lämmern entnommen worden war und nun in offenen Feuern verbrannte.
Salome verzog ein wenig den Mund. Diesen Teil des Feiertages mochte sie nicht. Erst heute Abend, wenn die große Familie zum Festschmaus zusammenkam, beschwingte Musik aufgespielt wurde, alle durcheinander redeten und Kinder wie sie mit kleinen Gaben beschenkt wurden, würde sie passah wieder mögen. Zwischen Mandelgebäck, ungesäuertem Brot, Fruchtmus und gedünstetem Huhn
Weitere Kostenlose Bücher