Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
mit Datteln ließen sich die Geschenke genießen. Nur das gekräuterte Lamm rührte sie nie an, allem Drängen ihres Vaters zum Trotz.
Sie blickte sich um, sah aber niemanden. Herodes, der großen Versammlungen stets misstrauisch gegenüberstand, hatte fast seine gesamte Palastgarde auf die Straßen der Unterstadt geschickt, und die Familie und die Bediensteten nahmen zum großen Teil an den Zeremonien teil, so dass Salome sich ziemlich allein vorkam. Nur ihre Mutter hatte sich lustlos in ihre Gemächer zurückgezogen.
Doch das war kein Problem. Im Palast des Herodes gab es reichlich Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Da waren Fischteiche, deren bunten Bewohnern Salome stundenlang zuschauen konnte, Ölbäume zum Klettern, weite Säulenhallen und unheimliche, endlose Kellergewölbe zum Versteckspielen. Mit wem Salome sich die Zeit vertrieb, konnte sie vorher nie wissen. Sie streifte einfach durch die vielen Gänge und Hallen, bis sie ein anderes Kind traf. Ob es nun ein entfernter Vetter war, die Tochter eines Beamten oder der Enkel der alten Waschfrau, spielte dabei keine Rolle. Sie durchschaute die Familienverhältnisse und den unübersichtlichen, riesigen Palast nicht und hatte keine Ahnung, mit wem sie sich die Zeit vertrieb. Heute war es anders, denn sie traf auf Berenike, ihre liebste Gefährtin. Berenike war irgendwie mit ihr verwandt.
»Komm mit«, rief ihre gleichaltrige Freundin fast atemlos und zupfte sie am Ärmel ihrer Tunika. »Da vorne passiert etwas!«
»Was denn? Wo denn?«, fragte Salome erfreut, denn sie vermutete ein außergewöhnliches Ereignis, und die waren ihr immer die liebsten.
»Kann ich nicht sagen.« Berenike schüttelte betroffen den Kopf. »Du musst selber sehen.«
Salome rannte an der Balustrade entlang, so schnell sie konnte.
»Warte!«, rief Berenike und versuchte, ihr zu folgen. »Nicht so rasch, Salome. Du sollst dich doch nicht anstrengen.« Wie fast immer, mahnte sie vergeblich.
Als sie an einer Ecke angelangt waren, von wo aus sie einen besonders guten Blick auf den Tempel des Einen Gottes hatten, streckte Berenike den Arm aus und rief: »Da!«
Salomes Blick folgte der Richtung. Über dem Tor, das zum Inneren Bezirk des Tempels führte, hatte, seit Salomes Großvater König geworden war, ein bronzener Adler geprangt, doch nun waren drei Männer dabei, ihn mit schweren Hämmern und Schwertern zu zerschlagen. Sie schienen nicht in königlichem Auftrag zu handeln, denn ein Dutzend Wachen stürmte heran, und es kam zu einem kurzen Gefecht, bevor die Männer überwältigt wurden. Die Hälfte des linken Adlerflügels, eine Kralle und der Schnabel lagen zertrümmert am Boden, der Rest war nur noch ein Mitleid erregendes Überbleibsel der Größe und Macht, die der schwere, dunkle Vogel zuvor verkörpert hatte.
Salome war ein wenig enttäuscht. Wofür hatte sie sich dermaßen abgehetzt? Sie keuchte schwer, und alle paar Atemzüge musste sie kurz und trocken husten. Seit sie denken konnte, erging es ihr so, egal, was man dagegen unternahm. Die Ärzte mit den langen Bärten konnten ihr ebenso wenig helfen wie die Priester mit den noch viel längeren Bärten. Nicht anstrengen, nicht aufregen, das war das Ergebnis der Weisheit eines Dutzends Gelehrter. Ihre Eltern nahmen es hin. Als Prinzessin von Judäa musst du dich nicht anstrengen, und als Frau nicht aufregen, mahnte ihr Vater sie manchmal. Doch Salome wollte das Gegenteil. Sie wollte sich anstrengen, sie wollte sich aufregen. Sie hatte ein Recht darauf, und nur weil ihr dieses Recht von Gott oder sonstwem verwehrt wurde, war sie nicht bereit, darauf zu verzichten.
Die drei Männer wurden von den Soldaten abgeführt. Alles war viel zu schnell vonstatten gegangen, fand Salome, und schlimmer noch, sie verstand überhaupt nicht, was vonstatten gegangen war.
»Schön«, sagte sie und sah Berenike unschlüssig an. »Ein toter Vogel liegt nun noch toter am Boden. Und was jetzt?«
Berenike schüttelte die dunklen Locken, die Salome manchmal an die Garnrollen von Schneiderinnen erinnerten. Jedes Haar auf Berenikes Kopf schien seinen festen, vorbestimmten Platz zu haben, und Salome war froh, dass ihre eigenen schwarzen Haare viel zu dünn dafür waren, denn ihre Mutter hätte sie sonst ebenso herrichten lassen. So durfte sie sie nach hinten kämmen und dort mit einem farbigen Seidenband zusammenbinden. Am liebsten hätte sie die Haare zwar offen getragen, aber ihre Mutter meinte, dann würde sie noch elender aussehen als
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