Die Schluesseltraegerin - Roman
Vorräte, ihr Saatgut hatte, die es verstand, mit den ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln bestmöglich zu haushalten, ja teilweise sogar eigene Gewinne durch das Herstellen gefärbter Tuche einfuhr. Inga war eine viel zu kluge Frau, als dass Rothger auf sie als Verwalterin, als Inhaberin der Schlüsselgewalt in seinem Hause, hätte verzichten wollen.
Nun war er tot, und Inga saß, mit den Füßen im Schlamm, auf einem moosbedeckten Baumstamm und dachte darüber nach, wie wenig er ihr leidtat. Ja, fast hatte er es verdient, sich an diesem Eichenast den Schädel zerschmettert und den Hals gebrochen zu haben, an einem Ast, den er genau kannte, unter dem er schon so häufig heil hindurchgeritten war und den er bislang nur deshalb nicht abgesägt hatte, weil der Baum schon seit ewigen Zeiten als heilig galt.
Er tat ihr wahrlich nur ein wenig leid. Anders jedoch dachte sie über sich selbst: Was würde nun aus ihr werden? Aus Inga, verstoßene Tochter des Meinrad, kinderlose Witwe, Frau ohne Recht und ohne Bleibe. Sie würde fortan unter der Munt ihres Schwagers Ansgar stehen, und dieser würde entscheiden, ob sie bleiben dürfte oder gehen müsste. Gehen wohin?
Etwa mit einem der vielen friesischen Schiffer die Weser hinauf zu einem der großen Handelsplätze – dorthin, wo viele Kaufleute und Seefahrer ohne ihre Ehefrauen hinkamen, wo sie ihre Geschäfte abwickelten und sich nach einem harten Arbeitstag gerne in den Armen der zahllosen an diesen Orten lebenden Huren entspannten?
Oder sollte sie in der Gegend bleiben, zum Flecken Huxori ziehen und sich in der Nähe des neuen Klosters herumtreiben, in der Hoffnung, von den Mönchen Almosen zu empfangen?
Bis vor wenigen Stunden war sie die Herrin eines Hofes, einer riesigen, freien Bauernstelle gewesen. Nun war sie ein Nichts, abhängig von der Gunst derer, die noch gestern unter ihr standen.
Wenn sie doch nur vernünftig gewesen wäre. Wenn sie sich
damals, auf dem Frühlingsfest, nicht von Rothger hätte beeindrucken lassen. Wenn sie sich nicht heimlich mit ihm getroffen und sich schließlich von ihm hätte entführen lassen. Warum nur hatte sie das getan? Welche bösen Geister hatten Besitz von ihr ergriffen, als sie solch eine Schande über ihre Familie brachte?
Jetzt stand sie da, nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, allein und ohne Ausweg – und wahrscheinlich, so würde der Priester im fernen Huxori sprechen, bei dem sie erst zweimal in ihrem Leben zur Beichte war, wahrscheinlich war das die gerechte Strafe des neuen Gottes für all ihre schweren Verfehlungen und schamlosen Sünden.
»Es gilt den Toten vorzubereiten, Inga. Beklagen wir ihn lieber gemeinsam, als dass du hier allein im Wald sitzt.«
Es war Gernot, der jüngste Bruder Rothgers, der plötzlich hinter ihr stand. Er war bereits in Ingas Alter, aber trotzdem wirkte er unglaublich jung, fast noch wie ein Kind. Keiner der drei Brüder glich dem anderen. Im Gegensatz zu den älteren beiden war Gernot zwar ebenfalls groß gewachsen, aber sehr schmächtig, fast dürr. Ihm fehlte das herrisch Bedrohliche eines Rothger und eines Ansgar – vielmehr war er ein fröhlicher, gutmütiger, fast weicher junger Mann. Im Gegensatz zu Ansgar mochte Inga Gernot sehr gern.
Traurig lächelte sie ihm zu, stand auf und ging mit ihm schweigend zurück zum Haus. Drinnen war ein lautes Wehklagen zu hören. Alle Frauen der Familie samt der Mägde standen bei dem auf einer Bank liegenden Toten, weinten, schrien und verfielen immer wieder in altbekannte Totengesänge.
Es war schon lange verboten, diese heidnischen Rituale zur Beschwichtigung der verstorbenen Seele zu vollziehen. Aber nach wie vor gab es niemanden – keinen Bauern, keinen Hörigen und auch kaum einen Edlen in der nahen Umgebung -,
für den nach seinem Ableben keine Totentänze, Totengesänge, Totenklagen und Totenmahle abgehalten wurden.
Niemand mehr war ungetauft in diesen Tagen, jeder war Christ. Doch die nächste Kirche lag fast einen Tagesmarsch entfernt, und sie an einem jeden Sonntag zu besuchen, war den Menschen fast unmöglich. Auch Geistliche verirrten sich nur selten in diese Gegend, und so gab es neben dem Wenigen, was man vom neuen Glauben wusste, vor allem das Viele, was vom alten Glauben geblieben war.
So war es auch Ingas Aufgabe, ihrem verstorbenen Mann eine Münze unter die Zunge zu legen, den Lohn für den Fährmann, der ihn über den Fluss Styx in die Unterwelt bringen sollte. Und dort sollte er auch bleiben. Selbst
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