Der Rote Wolf
PROLOG
Blut hatte er noch nie gut sehen können. Das hatte mit der zähflüssigen Konsistenz zu tun, mit dem warmen Pulsieren. Er wusste, dass es irrational war, zumal für jemanden wie ihn. In letzter Zeit hatte der Ekel ihn in seinen Träumen heimgesucht und Formen angenommen, die sich jeglicher Kontrolle entzogen.
Jetzt blickte er auf seine Hände hinab und entdeckte, dass sie von dunkelrotem Menschenblut überströmt waren. Noch warm und klebrig, tropfte es auf seine Hose. Der Geruch stieg ihm in die Nase, und er schreckte zurück und versuchte in Panik, das Blut von seinen Händen abzuschütteln.
»Hören Sie mich? Wir sind da.«
Die Stimme drang durch den dünnen Schleier des Schlafs und ließ das Blut auf einen Schlag verschwinden. Die Übelkeit aber blieb. Beißende Kälte quoll zur Bustür herein. Der Busfahrer hatte die Schultern in dem vergeblichen Versuch hochgezogen, ihr zu entkommen.
»Oder wollen Sie vielleicht mit ins Depot?«
Die anderen Fahrgäste hatten den Flughafenbus bereits verlassen. Er erhob sich mühsam von seinem Platz, leicht gebeugt von den Schmerzen, nahm seinen Seesack vom Nebensitz und murmelte
merci beaucoup.
Als seine Füße den Asphalt berührten, ließ ihn der Stoß, der durch seinen Körper fuhr, aufstöhnen. Er lehnte sich für einen Moment an die mit Raureif überzogene Blechkarosserie und strich sich über die Stirn. Eine Frau mit einer Strickmütze, die zu einer Nahverkehrs-Haltestelle einige Meter weiter wollte, blieb neben seinem Seesack stehen. Ihr Blick war ehrlich besorgt, als sie sich zu ihm vorbeugte.
»Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«
Er reagierte heftig und spontan und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht.
«
Laissez moi«,
sagte er viel zu laut und angestrengt keuchend.
Die Frau machte keine Anstalten weiterzugehen und blinzelte ein paar Mal mit halb offenem Mund.
»Etes-vous sourde? J'ai déjà dit laissez moi.«
Ihr Gesicht verzog sich angesichts seiner Aggressivität, und sie wich mit gekränktem Blick zurück. Er sah ihrer untersetzten Gestalt nach, die mit prall gefüllten Plastiktüten zur Linie 3 wankte.
Ich frage mich, ob ich auch so klinge, wenn ich Schwedisch spreche, schoss es ihm durch den Kopf.
Dann erkannte er, dass er diesen Gedanken tatsächlich in seiner Muttersprache formuliert hatte.
Indépendance,
dachte er und zwang sein Gehirn ins Französische zurück.
Je suis mon propre maître.
Die Frau starrte ihn nochmals an, ehe sie in ihren Bus stieg.
Er blieb in den Dieselschwaden stehen, während die Busse davonglitten und die Menschen die Storgatan verließen, horchte in die kalte Stille hinein, nahm das schattenlose Licht wahr.
An keinem anderen Ort der Welt war einem der Weltraum so nahe wie am Polarkreis. Als er hier aufwuchs, hatte er die Einsamkeit als selbstverständlich hingenommen und nicht begriffen, was es bedeutete, auf dem Dach der Welt zu wohnen. Nun sah er sie so deutlich, als wären sie in die Straßen, die Häuser, die erfrorenen Nadelbäume eingraviert: die Einsamkeit und die Verletzlichkeit, die unendlichen Weiten, die so vertraut und doch so fremd waren.
Es ist ein harter Ort, dachte er, erneut auf Schwedisch. Eine steif gefrorene Stadt, die vom Staat und vom Stahl lebt. Und dann: Genau wie ich.
Vorsichtig schob er den Riemen des Seesacks über Schulter und Brust und ging auf den Eingang des Stadthotels zu. Die Fassade des um 1900 errichteten Gebäudes sah noch exakt so aus, wie sie ihm in Erinnerung war, die Veränderung des Interieurs konnte er allerdings nicht beurteilen. Während seiner Zeit in Lulea hatte er nie einen Grund gehabt, die Ehrenplätze der Bürgerlichkeit zu besuchen.
Der Portier nahm den alten Franzosen mit zerstreuter Höflichkeit in Empfang. Er gab ihm ein Zimmer im zweiten Stock, erläuterte die Frühstückszeiten, überreichte ihm die Plastikkarte mit dem Magnetstreifen für die Tür und vergaß ihn unmittelbar darauf wieder.
Inmitten einer Menschenmenge fällt man am wenigsten auf, dachte er, bedankte sich in gebrochenem Englisch und ging zu den Aufzügen.
Das Zimmer war auf unbeholfene und verschämte Art anbiedernd. Der Preis, eiskalte Kacheln und Kopien von Stilmöbeln sollten Luxus und Tradition vorspiegeln, doch hinter der Fassade sah er ungeputzte Fenster und schmierige Glasfiberwände.
Er setzte sich einen Moment aufs Bett und schaute in die Abenddämmerung hinaus, oder war dies etwa noch das Morgengrauen?
Der Meeresblick, den die Homepage angepriesen hatte, bestand
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