Die Schluesseltraegerin - Roman
dieser Benediktinerabtei, die nach einem gescheiterten ersten Versuch vom nahen Solling an die Weser verlegt wird, muss es einem Kulturschock gleichgekommen sein, als sie aus ihrem Mutterkloster Corbie im heutigen Frankreich in das wilde und kalte Heidenland entsandt wurden. Dennoch avancierte Corvey nur wenige Jahre nach seiner Gründung zu einem der reichsten und einflussreichsten Klöster nördlich der Alpen. Dies nicht zuletzt dank Adalhard und Wala, die sehr wahrscheinlich auch das Amt der ersten Äbte des Klosters bekleideten. Die beiden Brüder waren bereits Berater Karls des Großen gewesen und gewannen, nach anfänglichen Unstimmigkeiten, noch größeren Einfluss auf dessen Nachfolger und Sohn, Ludwig den Frommen. Bei ihnen handelt es sich um tatsächliche historische Gestalten, während die Mönche Agius und Melchior sowie der Hofkaplan Taddäus und der Prior Wulfram meiner Fantasie entsprungen sind.
Ebenfalls fiktiv sind auch Inga, Ansgar, Ada und alle anderen guten und bösen Helden dieses Romans. Dennoch kann ich behaupten, dass sie in ihrem Denken und Handeln allesamt Kinder ihrer Zeit und des sie umgebenden gesellschaftlichen Umfeldes sind – zumindest nach meinem besten Wissen und Gewissen. Liudolf hingegen, das Oberhaupt der Sippe, welche die Talsiedlung bewohnt, ist angelehnt an eine historische Figur, die für das Jahr 823 im Schenkungsregister des Klosters Corvey erwähnt wird. Hier ist von einem Mann namens Ovo die Rede, die Kurzform von Liudolf, ein sächsischer Adeliger oder Freier, welcher dem Kloster nur wenige Jahre nach dessen Gründung
Land vermachte. Nach ihm ist sehr wahrscheinlich mein Heimatdorf Ovenhausen benannt. Weiteres weiß man nicht über diesen Mann, und sicherlich war er anders als die Gestalt in diesem Roman – vielleicht heldenhafter, vielleicht auch nicht.
Ebenfalls nicht Produkt meiner Fantasie sind die Landschaft, die Täler, die Berge und die Wälder. All das sind real existierende Erinnerungsorte aus meiner Kindheit, und es entspricht auch der Wahrheit, dass es an der Stelle, an der ich den Hilgerhof angesiedelt habe, tatsächlich eine mittelalterliche Siedlung gegeben hat. Eine Siedlung namens Hiltwerksen, in der Nähe des Dorfes Ovenhausen gelegen, welche von dort aus über einen Hohlweg zu erreichen war. Diesen Hohlweg kann man noch immer gehen, er führt jedoch in einen Wald, denn die Siedlung wurde bereits im 14. Jahrhundert aufgegeben und ist längst verschwunden. Angeblich jedoch soll man dort im Wald noch immer einen unglaublich tiefen Brunnen finden, in dem der Teufel haust. Ich habe vergeblich danach gesucht, was mich jedoch nicht davon abgehalten hat, diesem Brunnen einen Platz im Roman einzuräumen.
Erwähnenswert bleibt natürlich auch die Geschichte der Kapelle auf dem heiligen Berg. Auf diesem bewaldeten Hügel steht noch immer ein kleines Gotteshaus. Ursprünglich wurde es im Jahre 1078 von Mönchen des Klosters Corvey errichtet, im Dreißigjährigen Krieg zerstört und danach wieder aufgebaut. Dennoch sprechen Quellen davon, dass es am gleichen Ort bereits um 800 ein erstes Gotteshaus gegeben habe, eine Kirche, gestiftet von niemand Geringerem als Karl dem Großen, geweiht gar von Papst Leo III. Hier soll eine Tochter Karls, Salvia mit Namen, als Einsiedlerin gelebt haben. Ob dies Wahrheit oder Legende ist, lässt sich nicht mehr klären. Dennoch hat diese Information meine Fantasie beflügelt und mich dazu bewogen, die fiktive »Mission« des Agius und des Melchior guten Gewissens
ins frühe 9. Jahrhundert zu verlegen, auch wenn die tatsächliche Kapelle erst mehr als 200 Jahre später erbaut wurde.
Denn dieser Berg schien bekannt zu sein: Er soll bereits lange vor Ankunft des Christentums als heilig gegolten und eine Pilgerstätte für die heidnischen Bewohner der umliegenden Siedlungen dargestellt haben. Man vermutet dort eine alte germanische Thingstätte oder gar einen heidnischen Opferplatz. Und tatsächlich umgibt diesen Ort auch heute noch etwas seltsam Mystisches, von dem sich selbst der realistischste und rationalste Besucher nicht gänzlich freimachen kann.
Ich hoffe, mit diesem kleinen Ausflug – den ich noch unendlich erweitern könnte – ein wenig Licht ins Dunkel einer fesselnden Zeit gebracht zu haben.
1. Auflage
Originalausgabe Juli 2010
Copyright © 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNOWerbeagentur München
Umschlagfoto: Die heilige Maria Magdalena beim
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