Die schöne Ärztin
Nummer.
»Bitte, sofort Dr. Born ins Direktionszimmer!« rief er. »Ein Herzanfall des Chefs –«
Er warf den Hörer auf die Gabel, rannte zurück zu seinem Vater, setzte sich auf die Sessellehne, knöpfte ihm das Hemd über der Brust auf und hielt dann seinen schlaffen Kopf fest.
»Es ist grausam, Paps«, sagte er ohne jeden Sarkasmus, »aber nun mußt du doch Waltraud Born an dich heranlassen …«
Im Hause Holtmann hing der Haussegen schief. Nicht, daß Hans Holtmann wieder schimpfte oder große Vorträge hielt, ganz im Gegenteil, es war das, was man im Ruhrgebiet eine ›stille Messe‹ nennt. Man saß um den Tisch herum und schwieg. Man saß vor dem Fernsehgerät und schwieg. Man saß im Garten und schwieg, man grub die Beete um und schwieg. Der Betrieb ging weiter wie bisher, es hatte sich äußerlich nichts geändert, aber das innere Gefüge der Familie Holtmann war gesprengt.
Der hin- und hergerissene Kurt hatte sich bereiterklärt, auf seine Arbeit als Hauer zu verzichten, und trat in die Verwaltung von Emma II ein.
»Mein Sohn – ein Schlipskumpel!« Das war alles, was Hans Holtmann dazu sagte. Aber das genügte. Die ganze Verachtung von drei Generationen Püttmännern entlud sich auf den Vertreter der vierten Generation, der von Ort wegging und ›etwas Besseres‹ wurde. Auch die bisherigen Freunde Kurts sonderten sich ab. Weniger, weil er jetzt nicht mehr mit ihnen einfuhr, sondern weil sie argwöhnten, er werde jetzt ein Spitzel des Chefs.
Kurt Holtmann schluckte diese offensichtliche Mißachtung tapfer und still. Sie wissen noch gar nicht, was ich alles vorhabe, dachte er. Sie werden einmal Abbitte leisten. Ich hänge die Grubenlampe nicht an den Nagel, um mich vollzufressen. Ich werde über Tage mehr für sie tun können, als vor Ort an der Kohle. Dort bin ich ein Hauer, den der Steiger anpfeift. Hier bin ich der Schwiegersohn des Chefs, der die Hebel ansetzen kann, wo es nötig ist. Am Konferenztisch. Nicht unter Tage wird die Geschichte der Bergleute geschrieben, sondern in den Zimmern der Konzerne.
In der Hauptverwaltung erhielt Kurt Holtmann ein neues Zimmer, neue Möbel aus heller Eiche, ein weißes Telefon, eine Sekretärin und eine Luftaufnahme der Zeche Emma II. Ein Großfoto, auf einer Spanplatte aufgezogen, sehr attraktiv, sehr eindrucksvoll.
Gleich nachdem das Büro eingerichtet war, schickte ihm die Abteilung Marktforschung der Hauptverwaltung Akten und Listen hinüber, Berichte und Statistiken. Auf dem Laufzettel stand in roter, schöner Blockschrift: Zur Vorlage bei Leiter Abteilung Statistik.
In diesem Augenblick wußte Kurt Holtmann, daß man ihn kaltzustellen begann. Seine Aufgabe, für die er ab sofort ein Abteilungsleitergehalt bezog, bestand darin, Statistiken zu lesen, abzuzeichnen und abzuheften. Jede Woche war ein Bericht zu machen über die Förderentwicklung der einzelnen Schachtanlagen von Emma II im Vergleich zu den Fördermengen der Konkurrenzen unter Berücksichtigung der Beschäftigtenzahl.
Kurt Holtmann rief seinen zukünftigen Schwager Dr. Fritz Sassen an.
»Was soll der Blödsinn, Fritz?« fragte er. »Ich mache mich ja lächerlich! Ich will arbeiten, aber nicht meine Zeit nutzlos totschlagen.«
»Das kannst du. Ich komme gleich zu dir herüber. Ich habe meinem Alten gekündigt. Die Vertretung der nächsten Arbeitssitzung kannst du schon übernehmen. Dazu brauchst du keine Vorkenntnisse. Es genügt, wenn du das sagst, was du denkst. Damit legst du denen Dynamit unter ihre Hintern!«
Entgeistert legte Kurt Holtmann auf. Fritz hatte gekündigt. Zehn Minuten später hörte er von seiner Sekretärin, daß Direktor Sassen nach Hause gebracht worden sei. Dr. Waltraud Born habe ihn begleitet. Herzanfall.
Die Aussprache zwischen Dr. Fritz Sassen und Kurt Holtmann war lang und eindringlich. Dann gaben sie sich die Hand wie Brüder.
»Ich wünsche dir alles Glück, Fritz«, sagte Kurt und begleitete seinen zukünftigen Schwager bis zur Tür. »Wir werden ja dann in Kürze wieder zusammenarbeiten. Du auf der Arbeitnehmerseite, und ich auf der Gegenseite. Eigentlich absurd, nachdem wir die gleichen Ideen haben.«
»Willst du nicht doch mitkommen, Kurt?« Fritz Sassen drehte sich an der Tür noch einmal um. »Ich kann einen zweiten Mann gebrauchen.«
»Hat keinen Zweck, Fritz.«
»Das hier ist ein sinkendes Schiff. Das Leck ist nicht mehr von innen, sondern nur noch von außen abzudichten. Aber dazu müssen wir tauchen. Es hat keinen Sinn, an Deck zu stehen und
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