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Todesblueten

Todesblueten

Titel: Todesblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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    Sie konnte nicht schreien.
    Das Klebeband über ihrem Mund erstickte jedes Geräusch. Dann eben treten. Sie zog die Beine an, so gut sie konnte. Viel Platz war in diesem dunklen Loch nicht, außerdem schnürte der straffe Draht ihr fast das Blut in den Füßen ab. Ein dumpfes Geräusch erklang, als ihre Turnschuhe an das Holz knallten. Verdammt! Etwas Heißes, Verzweifeltes schoss in ihr hoch, füllte ihre Augen, ihre Nase. So weit durfte es nicht kommen. Die Nase musste frei bleiben zum Luftholen. Sie musste sich konzentrieren. Sich zwingen, nicht in Panik zu geraten. Dieser läppische Riegel da draußen. Sie hatte ihn gestern selbst gesehen. Das war zu schaffen, so ein verdammter kleiner, rostiger Riegel. Sie musste immer wieder gegen die Tür treten, irgendwann würde er nachgeben. Und dann würde sie ins Wasser fallen, aber das war kein Problem. Auch nicht mit gefesselten Händen und Füßen. Das Wasser war nicht tief und sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, außerdem konnte sie spüren, dass sich der Draht an ihren Handgelenken lockerte. Wenn sie weiter daran zog und zerrte, konnte sie vielleicht eine Hand befreien. Sie lauschte. Irgendwo da draußen erklang ein fernes Lachen. Würde sie jemand hören?
    Sie schloss die Augen. Holte schniefend Luft durch
ihre verstopfte Nase. Und trat wieder zu, so hart sie nur konnte. Es knirschte! Hektisch rutschte sie auf ihren Shorts ein Stück nach vorn. Ihr nackter Oberschenkel ratschte über eins der unzähligen dicken Seile, die hier herumlagen wie Schlingpflanzen. Haut riss blutig auf, aber sie merkte es nicht. Noch ein Tritt. Die Tür gab nach!
    Sie wollte vor Erleichterung schreien, doch wegen des Klebebandes kam nur ein dumpfes Keuchen heraus. Sie roch den leicht fauligen Geruch des Wassers, rollte sich auf den Bauch, stemmte sich auf alle viere und rutschte zentimeterweise zu der kleinen Lukentür. Frische Nachtluft strömte herein. Das Wasser begann keine drei Zentimeter unter der Luke. Zum Ufer waren es ungefähr zehn Meter

ein Kinderspiel, besonders jetzt, wo sich der Draht so weit gelockert hatte, dass sie ihren rechten Daumen herausziehen konnte. Genug, um das widerliche Klebeband aufzureißen. Es ging nicht ganz ab, hing noch an einem Stück, aber wenigstens konnte sie wieder richtig atmen. Sie holte tief Luft. Jetzt oder nie. Sie ließ sich ins Wasser fallen, doch als sie auftauchen wollte, spürte sie, dass etwas sie festhielt. Sie drehte sich auf den Rücken, versuchte zu erkennen, was es war, zerrte und ruckte. Ihre zusammengebundenen Füße hatten sich in einem der Schlingseile verheddert und sie kam nicht heraus. Sie hing unter Wasser fest!
    Ein berstender Druck breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Nein! Sie musste an die Oberfläche, an die Luft. Ihre Bewegungen wurden schneller, chaotischer, sie riss ihr Bein
verzweifelt hin und her. Ihr Kopf schien zu zerspringen, das Herz raste, sie musste ihren Mund öffnen . . . das Wasser . . . es schmerzte so sehr in ihren Lungen . . . brannte, zerriss, zerfetzte . . .
    Das Letzte, was sie wahrnahm, war eine kleine rosa Wolke, die auf sie herabschwebte.

1.
    Zwei Tage zuvor
     
    Der Mann, der uns im Zug gegenübersaß, war nicht zum Aushalten. Managertyp   – feinstes graues Jackett, graue Schläfen, durchdringender Geruch nach Eau de Erfolg und arroganter Blick. Jedes Mal, wenn sein Handy klingelte, drückte er wie elektrisiert darauf und brüllte »Ich grüße Sie!« hinein.
    Und jedes Mal gab Melanie neben mir ein unterdrücktes Gurgeln von sich. Ich trat ihr heimlich gegen das Bein. Wenn er nicht bald mit der Grüßerei aufhörte, würden wir beide vor Lachen explodieren.
    Ich versuchte, mich mit einem Buch abzulenken und mich auf die nächste Woche einzustimmen. Eine Woche in Tante Lenas Hausboot   – ohne Tante Lena natürlich. Streng genommen war es auch nicht ihr Hausboot, sondern das von Onkel Holger, weswegen sie auch nichts mehr damit zu tun haben wollte. Onkel Holger war nämlich vor einiger Zeit mit seiner neuen Flamme auf und davon.
    »Soll ich vielleicht im Sommer alleine auf dem Kahn im Spreewald rumhocken, während der mitseinem Flittchen durch die Welt gondelt? Da oben gibt's doch nichts außer Wasser und sauren Gurken«, hatte Tante Lena aufgebracht verkündet.
    »Lena, bitte!«, hatte meine Mutter gemurmelt, denn sie konnte die
Holger-der-Schuft- Tiraden
wohl auch nicht mehr hören. Aber mir war plötzlich eine geniale Idee gekommen. Urlaub auf dem Hausboot. Ohne Eltern. Mit

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