Die schöne Diva von Saint-Jacques
Besucher. Aber nein, der ältere Mann hatte sich eingerichtet. Für lange? Jedenfalls war er da, im Dachgeschoß. Das war doch merkwürdig. Er schien gar nicht übel auszusehen. Er war bei weitem der schönste der vier. Aber auch der älteste. Sechzig, siebzig. Man hätte meinen können, aus diesem Mann würde eine Donnerstimme kommen, aber im Gegenteil, er hatte eine so sanfte und leise Stimme, daß Sophia noch kein einziges Wort hatte aufschnappen können von dem, was er sagte. Eine aufrechte, hohe Gestalt, ganz wie ein entthronter Feldherr, der bei den Arbeiten nicht mit Hand anlegte. Er überwachte alles und redete viel.
Unmöglich, seinen Namen herauszubekommen. Einstweilen nannte Sophia ihn Alexander den Großen, oder auch die alte Nervensäge, das hing ganz von ihrer Laune ab.
Am häufigsten hörte man den Typen mit der Krawatte, Lucien. Seine erregte Stimme trug weit, und er schien Vergnügen daran zu finden, mit lauter Stimme Kommentare abzugeben und alle möglichen Ratschläge zu erteilen, die von den zwei anderen kaum befolgt wurden. Sie hatte versucht, mit Pierre darüber zu sprechen, aber er hatte sich für die Nachbarn genausowenig interessiert wie für den Baum. Solange die Nachbarn keinen Lärm in der Bruchbude machten, das war alles, was er dazu zu sagen hatte. O. k., Pierre war sehr eingespannt mit seinen sozialen Geschichten. O. k., er hatte sich Tag für Tag durch Aktenstapel mit schrecklichen Fällen von minderjährigen Müttern unter den Brücken, Rausgeworfenen, zwölfjährigen Straßenkindern und in ihrer Mansarde röchelnden Alten zu wühlen und mußte das alles für den Staatssekretär ordnen. Und Pierre war schon jemand, der seine Arbeit gewissenhaft erledigte. Auch wenn Sophia es haßte, wie er manchmal von »seinen« Bedürftigen redete, die er in Typen und Untertypen unterteilte, so wie er auch ihre Bewunderer unterteilt hatte. Wo hätte Pierre wohl sie selbst eingeordnet, als sie mit zwölf Jahren den Touristen in Delphi bestickte Taschentücher feilbot? Eine Bedürftige welcher Kategorie? Na ja. Man konnte verstehen, daß ihm mit all dem am Hals ein Baum oder vier neue Nachbarn schnurzegal waren. Aber trotzdem. Warum nicht ein einziges Mal darüber reden? Nur eine Minute?
6
Als Marc hörte, wie Luden von seinem Ausguck im dritten Stock Generalalarm oder ähnliches ausrief, hob er nicht einmal den Kopf. Im großen und ganzen fand sich Marc mit dem Weltkriegshistoriker ab, der zum einen einen beträchtlichen Teil Arbeit in der Baracke weggeschaufelt hatte und zum anderen zu extrem langen Phasen arbeitsamer Stille fähig war. Sehr intensiven Phasen. Wenn er sich im weiten Abgrund des Weltkrieges vergraben hatte, hörte er nichts mehr. Er hatte alle elektrischen Leitungen überholt und sich um die gesamten Installateurarbeiten gekümmert, und Marc, der davon keine Ahnung hatte, war ihm auf ewig dankbar. Er hatte auch dafür gesorgt, daß sich das Dachgeschoß in eine weiträumige Zweizimmerwohnung verwandelt hatte, die überhaupt nichts Kaltes oder Düsteres mehr an sich hatte und in der der Onkel sich wohl fühlte. Er sorgte für ein Drittel der Miete und war von überströmender Freigebigkeit, dank der die Baracke von Woche zu Woche wohnlicher wurde. Genauso großzügig war er auch mit Worten und lärmenden Reden. Ironisierende Militärtiraden, Übertreibungen aller Art, beißende Urteile im Überfluß. Er war in der Lage, eine geschlagene Stunde wegen einer winzigen Kleinigkeit herumzuschreien. Marc lernte, Luciens Tiraden an sich vorüberziehen zu lassen wie harmlose Ungeheuer. Dabei war Lucien nicht einmal Militarist. Unerbittlich und entschlossen jagte er dem Wesen des Ersten Weltkrieges hinterher, ohne es je fassen zu können. Vielleicht war das der Grund für sein Geschrei. Nein, sicher lag es an etwas anderem. An diesem Abend gegen sechs Uhr überkam es ihn jedenfalls wieder. Er stürzte sogar die Treppe herunter und trat ohne zu klopfen bei Marc ein.
»Generalalarm«, rief er. »In die Unterstände. Die Nachbarin ist im Anmarsch.«
»Welche Nachbarin?«
»Die von der Westfront. Die Nachbarin von rechts, wenn dir das lieber ist. Die reiche Frau mit dem Schal. Keinen Ton mehr. Wenn sie klingelt, bewegt sich keiner. Die Parole lautet: leeres Haus. Ich rede mit Mathias.«
Bevor Marc seine Meinung hätte sagen können, stieg Lucien bereits in die erste Etage hinunter.
»Mathias!« rief Lucien und öffnete die Tür. »Alarm. Parole lee...«
Marc hörte, wie
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