Die schöne Diva von Saint-Jacques
stank. Marc ließ ihm den Arm, er fühlte ihn nicht einmal mehr.
Vandoosler beobachtete ihn. Er hätte ihn gern unterbrochen, ihm Fragen gestellt, aber er wußte, daß man Marc in diesem Augenblick nicht unterbrechen durfte. Einen Schlafwandler weckt man nicht, weil er dann herunterfällt, so heißt es. Vielleicht stimmte es, vielleicht nicht, er hatte keine Ahnung, bei Marc aber wußte er es. Man durfte Marc nicht wecken, während er mit traumwandlerischer Sicherheit forschte. Sonst fiel er. Er wußte, daß Marc sich wie ein Pfeil auf sein Ziel zubewegt hatte, seitdem er an diesem Abend die Baracke verlassen hatte, das war sicher, genau wie früher als Kind, wenn er wegrannte, weil er etwas nicht hinnehmen konnte. Daher wußte Vandoosler auch, daß Marc sehr schnell vorankommen konnte, daß er sich bis zum Zerreißen anspannen konnte, bis er fündig wurde. Vorhin war Marc noch in der Baracke vorbeigekommen und hatte Äpfel eingesteckt, daran konnte er sich gut erinnern. Ohne ein Wort zu sagen. Aber seine Intensität, seine abwesenden Augen, seine stumme Gewalt, ja, alles war dagewesen... Und wenn er nicht mit dem Kartenspiel beschäftigt gewesen wäre, hätte er sehen müssen, daß Marc dabei war, zu suchen, zu finden, sich auf sein Ziel zu stürzen... daß er dabei war, Juliettes Logik zu entschlüsseln und herauszufinden... Und jetzt erzählte er... Leguennec dachte sicherlich, Marc erzählt mit einer unglaublichen Kaltblütigkeit, aber Vandoosler wußte, daß dieses unaufhörliche, manchmal abgehackte, manchmal fließende Sprechen, das aber immer auf seiner Spur blieb wie ein Schiff mit böigem Rückenwind, bei Marc nichts mit Kaltblütigkeit zu tun hatte. Er war sich sicher, daß sein Neffe in diesem Augenblick ganz verkrampfte und schmerzhafte Beinmuskeln hatte und man seine Beine vielleicht mit heißen Handtüchern umwickeln müßte, damit sie wieder funktionierten, so wie er es häufig hatte tun müssen, als Marc klein war. Jeder konnte in diesem Moment glauben, Marc liefe ganz normal, er aber sah in der Dunkelheit der Nacht sehr gut, daß von den Oberschenkeln bis zu den Knöcheln hinab alles an Marc aus Stein war. Wenn er ihn unterbräche, würde das so bleiben, und deshalb mußte man ihn seine Sache beenden lassen, ihn in den Hafen zurückkehren lassen nach der Höllenfahrt seines Denkens. Nur so würden seine Beine wieder ihre Geschmeidigkeit zurückbekommen.
»Sie hat Georges befohlen, das Maul zu halten, er sei schließlich auch in die Sache verwickelt«, sagte Marc. »Georges hat gehorcht. Vielleicht ist er der einzige Mensch, den sie ein bißchen gemocht hat, denke ich, aber ich bin mir auch da nicht sicher. Georges hat ihr geglaubt... Vielleicht hat sie ihm ja erzählt, daß sie bei Sophia erneut ihr Glück versuchen wollte. Er ist ein Dicker, ein Vertrauensseliger, ohne Phantasie, er hat nie auch nur im Traum daran gedacht, daß sie Sophia umbringen wollte oder daß sie die beiden Kritiker umgebracht hat... Armer Georges... er war nie in Sophia verliebt. Lügen... Alles dreckige Lügen... Das nette, einfache Leben im Tonneau – alles Lügen. Sie spionierte Sophia nach, um alles über sie zu erfahren, vor aller Augen ihre engste Freundin zu werden und sie dann zu töten.«
Bestimmt. Es würde leicht sein, jetzt Beweise und Zeugen dafür zu finden. Er sah zu, wie Leguennec seinen Arm mit einer Binde umwickelte. Das war nicht gerade schön anzusehen. Seine Beine taten ihm furchtbar weh, viel mehr als sein Arm. Er zwang sie zum Gehen, wie eine Maschine. Aber er war das gewöhnt, er kannte das, es war unvermeidbar.
»Und fünfzehn Jahre nach Elektra hat sie ihre Falle gestellt. Sophia umgebracht, Louise umgebracht, zwei Haare von Sophia in den Kofferraum von Alexandras Auto gelegt, Dompierre umgebracht. Sie hat so getan, als verschaffte sie Alexandra für die Mordnacht ein Alibi... In Wirklichkeit hat sie gehört, wie Lucien um zwei Uhr morgens wie ein Verrückter auf seiner Mülltonne herumgeschrien hat... Weil sie nämlich gerade vom Hotel du Danube zurückgekommen war, wo sie den armen Kerl erstochen hatte. Sie war sicher, daß ihr ›Alibi‹ für Alexandra nicht lange halten würde, daß ich ihre Lüge zwangsläufig entdecken würde... Sie konnte also ›gestehen‹, daß Alexandra weggefahren sei, ohne den Eindruck zu erwecken, sie zu verraten... Widerlich, einfach widerlich...«
Marc erinnerte sich an das Gespräch an der Theke. »Das ist lieb von dir, Juliette...« Nicht für eine Sekunde
Weitere Kostenlose Bücher