Die schönsten Erzählungen
schwarzem Gewand, trug ein schwarzes Zylinderhütchen und hatte den einen seiner Arme durch ein Leiterchen gesteckt, auch eine Kaminfegerbürste fehlte nicht, es war alles sorgfältig und hübsch gearbeitet, und das kleine liebe Gesicht war ein wenig mit Ruß oder andrem Schwarz gefärbt. Davon wußte er aber nichts. Im Gegensatz zu allen den erwachsenen Pierrots, Chinesen, Räubern, Mexikanern und Biedermeiern, und ganz und gar im Gegensatz zu den auf der Bühne agierenden Figuren, hatte er keinerlei Bewußtsein davon, daß er ein Kostüm trage und einen Kaminfeger darstelle, und noch weniger davon, daß das etwas Besonderes und Lustiges sei und ihm so gut stehe. Nein, er stand klein und still auf seinem Platz, auf kleinen Füßen in kleinen braunen Schuhen, das schwarz lackierte Leiterchen über der Schulter, vom Gewoge umdrängt und manchmal ein wenig gestoßen, ohne es zu merken, er stand undstaunte mit träumerisch entzückten, hellblauen Augen aus dem glatten Kindergesicht mit den geschwärzten Wangen empor zu einem Fenster des Hauses, vor dem wir standen. Dort im Fenster, eine Mannshöhe über unsern Köpfen, war eine vergnügte Gesellschaft von Kindern beisammen, etwas größer als er, die lachten, schrien und stießen sich, alle in bunten Vermummungen, und von Zeit zu Zeit ging aus ihren Händen und Tüten ein Regen von Konfetti über uns nieder. Gläubig, entrückt, in seliger Bewunderung blickten die Augen des Knaben staunend empor, gefesselt, nicht zu sättigen, nicht loszulösen. Es war kein Verlangen in diesem Blick, keinerlei Begierde, nur staunende Hingabe, dankbares Entzücken. Ich vermochte nicht zu erkennen, was es sei, das diese Knabenseele so staunen und das einsame Glück des Schauens und Bezaubertseins erleben ließ. Es mochte die Farbenpracht der Kostüme sein, oder ein erstmaliges Innewerden der Schönheit von Mädchengesichtern, oder das Lauschen eines Einsamen und Geschwisterlosen auf das gesellige Gezwitscher der hübschen Kinder dort droben, vielleicht auch waren die Knabenaugen nur entzückt und behext von dem sacht rieselnden Farbenregen, der von Zeit zu Zeit aus den Händen jener Bewunderten herabsank, sich dünn auf unsern Köpfen und Kleidern und dichter auf dem Steinboden sammelte, den er schon wie feiner Sand bedeckte.
Und ähnlich wie dem Knaben ging es mir. So wie er weder von sich selbst und den Attributen und Intentionen seiner Verkleidung noch von der Menge, dem Clownstheater und den das Volk wie in Wogengängen durchpulsenden Schwellungen des Gelächters und Beifalls etwas wahrnahm, einzig dem Anblick im Fenster hörig, so war auch mein Blick und mein Herz mitten im werbenden Gedränge so vieler Bilder immer wieder dem einen Bilde zugehörig und hingegeben, dem Kindergesicht zwischen schwarzem Hut und schwarzem Gewand, seiner Unschuld, seiner Empfänglichkeit für das Schöne, seinem unbewußten Glück.
(1953)
Quellennachweis
Der Wolf : Geschrieben im Januar 1903 u.d.T. »Ein Untergang«. Typoskript u.d.T. »Wolf im Jura« im Deutschen Literaturarchiv, Marbach am Neckar. Erstdruck in »Rheinisch-Westfälische Zeitung«, Essen vom 17. 7. 1904. Unter verschiedenen Titeln (»Des Wolfes Ende«, »Wolf im Jura«) mehrfach in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Erstmals in Buchform in H. Hesse, »Am Weg«. Konstanz 1915.
Aus Kinderzeiten : Geschrieben 1903/04. Manuskript im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. Erstdruck in »Die Rheinlande«, Düsseldorf vom August 1904. Erstmals in Buchform in H. Hesse, »Diesseits«. Berlin 1907.
In der alten Sonne : Geschrieben im Januar/Februar 1904. Manuskript u.d.T. »Sonnenbrüder« im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. Erstdruck in »Süddeutsche Monatshefte«, München vom Mai/Juni 1905. Erstmals in Buchform in H. Hesse, »Nachbarn«. Berlin 1908.
Der Lateinschüler : Geschrieben Januar bis Juli 1905. Manuskript im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. Erstdruck in »Über Land und Meer«, Stuttgart vom Juni 1906. Erstmals in Buchform in H. Hesse, »Diesseits«. Berlin 1907.
Heumond : Geschrieben 1905. Manuskript in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien (Sammlung Stefan Zweig). Erstdruck in »Die Neue Rundschau«, Berlin vom April 1905. Erstmals in Buchform in H. Hesse, »Diesseits«. Berlin 1907. Das erste Abenteuer : Geschrieben 1905. Typoskript im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. Erstdruck in »Simplicissimus«, München vom 12. 3. 1906. Unter verschiedenen Titeln (»Erlebnis«, »Liebe wie im Traum«, »Mit achtzehn
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