Die schönsten Erzählungen
eigentlich früh zu Bett hatten gehen wollen, daran dachte jetzt niemand mehr.
Die warme Luft wogte in leichter Schwüle ungleich und träumend hin und wider, der Himmel war ganz in der Höhe sternklar und feuchtglänzend, gegen die Berge hin tiefschwarz und golden vom fiebernden Geäder des Wetterleuchtens überspannt. Die Gebüsche dufteten süß und schwer, und der weiße Jasmin schimmerte mit unsicheren Lichtern fahl aus der Finsternis.
»Sie glauben also, diese Reform unserer Kultur werde nicht aus dem Volksbewußtsein kommen, sondern von einem oder einigen genialen Einzelnen?«
Der Professor legte eine gewisse Nachsicht in den Ton seiner Frage.
»Ich denke es mir so –«, erwiderte etwas steif der Hauslehrer und begann eine lange Rede, welcher außer dem Professor niemand zuhörte.
Herr Abderegg scherzte mit der kleinen Berta, welcher die Tante Beistand leistete. Er lag voll Behagen im Stuhl zurück und trank Weißwein mit Sauerwasser.
»Sie haben den ›Eckehard‹ also auch gelesen?« fragte Paul das Fräulein Thusnelde.
Sie lag in einem sehr niedriggestellten Klappstuhl, hatte den Kopf ganz zurückgelegt und sah geradeaus in die Höhe.
»Jawohl«, sagte sie. »Eigentlich sollte man Ihnen solche Bücher noch verbieten.«
»So? Warum denn?«
»Weil Sie ja doch noch nicht alles verstehen können.«
»Glauben Sie?«
»Natürlich.«
»Es gibt aber Stellen darin, die ich vielleicht besser als Sie verstanden habe.«
»Wirklich? Welche denn?«
»Die lateinischen.«
»Was Sie für Witze machen!«
Paul war sehr munter. Er hatte zu Abend etwas Wein zu trinken bekommen, nun fand er es köstlich, in die weiche, dunkle Nachthineinzureden, und wartete neugierig, ob es ihm gelänge, die elegante Dame ein wenig aus ihrer trägen Ruhe zu bringen, zu einem heftigeren Widerspruch oder zu einem Gelächter. Aber sie schaute nicht zu ihm herüber. Sie lag unbeweglich, das Gesicht nach oben, eine Hand auf dem Stuhl, die andre bis zur Erde herabhängend. Ihr weißer Hals und ihr weißes Gesicht hoben sich matt schimmernd von den schwarzen Bäumen ab.
»Was hat Ihnen denn im ›Eckehard‹ am besten gefallen?« fragte sie jetzt, wieder ohne ihn anzusehen.
»Der Rausch des Herrn Spazzo.«
»Ach?«
»Nein, wie die alte Waldfrau vertrieben wird.«
»So?«
»Oder vielleicht hat mir doch das am besten gefallen, wie die Praxedis ihn aus dem Kerker entwischen läßt. Das ist fein.«
»Ja, das ist fein. Wie war es nur?«
»Wie sie nachher Asche hinschüttet –«
»Ach ja. Ja, ich weiß.«
»Aber jetzt müssen Sie mir auch sagen, was Ihnen am besten gefällt.«
»Im ›Eckehard‹?«
»Ja, natürlich.«
»Dieselbe Stelle. Wo Praxedis dem Mönch davonhilft. Wie sie ihm da noch einen Kuß mitgibt und dann lächelt und ins Schloß zurückgeht.«
»Ja – ja«, sagte Paul langsam, aber er konnte sich des Kusses nicht erinnern.
Des Professors Gespräch mit dem Hauslehrer war zu Ende gegangen. Herr Abderegg steckte sich eine Virginia an, und Berta sah neugierig zu, wie er die Spitze der langen Zigarre über der Kerzenflamme verkohlen ließ. Das Mädchen hielt die neben ihr sitzende Tante mit dem rechten Arm umschlungen und hörte großäugig den fabelhaften Erlebnissen zu, von denen der alte Herr ihr erzählte. Es war von Reiseabenteuern, namentlich in Neapel, die Rede.
»Ist das wirklich wahr?« wagte sie einmal zu fragen.
Herr Abderegg lachte.
»Das kommt allein auf Sie an, kleines Fräulein. Wahr ist an einer Geschichte immer nur das, was der Zuhörer glaubt.«
»Aber nein?! Da muß ich Papa drüber fragen.«
»Tun Sie das!«
Die Tante streichelte Bertas Hand, die ihre Taille umfing.
»Es ist ja Scherz, Kind.«
Sie hörte dem Geplauder zu, wehrte die taumelnden Nachtmotten von ihres Bruders Weinglas ab und gab jedem, der sie etwa anschaute, einen gütigen Blick zurück. Sie hatte ihre Freude an den alten Herren, an Berta und dem lebhaft schwatzenden Paul, an der schönen Thusnelde, die aus der Gesellschaft heraus in die Nachtbläue schaute, am Hauslehrer, der seine klugen Reden nachgenoß. Sie war noch jung genug und hatte nicht vergessen, wie es der Jugend in solchen Gartensommernächten warm und wohl sein kann. Wieviel Schicksal noch auf alle diese schönen Jungen und klugen Alten wartete! Auch auf den Hauslehrer. Wie jedem sein Leben und seine Gedanken und Wünsche so wichtig waren! Und wie schön Fräulein Thusnelde aussah! Eine wirkliche Schönheit.
Die gütige Dame streichelte Bertas rechte Hand,
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