Die Schuldlosen (German Edition)
geschlossen. Lothar stieg in den Passat und fuhr los. Alex wartete hinter dem Sharan, bis der Kombi außer Sichtweite war. Dann lief er weiter. Doch statt umzukehren, wie er es vorhatte, lief er auf das Haus zu. Es war wie ein innerer Zwang. Er konnte gar nichts dagegen tun.
Dann stand er vor der Tür. Und sein Herzschlag drohte ihm die Rippen zu brechen. Vom Laufen! Nur vom Laufen an der frischen Luft! Um nichts in der Welt hätte er zugegeben, was für einen Riesenbammel er hatte, dass Silvie die Tür zwar wieder öffnete, ihn dann aber so abfertigte, wie Cecilia es am Donnerstag getan hatte.
Er drückte auf den Klingelknopf, nichts rührte sich. Vielleicht hatte sie ihn eben schon bemerkt, ehe er sich hinter den Sharan ducken konnte. Oder sie hatte ihn jetzt von einem Fenster aus näher kommen sehen und wollte ihn nicht hereinlassen. Auch gut. Sie konnten ihn alle mal kreuzweise. Er brauchte weder Familie noch Freunde, kam am besten zurecht, wenn er keine Gedanken an andere verschwenden musste. Das hatte er sich in den letzten drei Jahren bewiesen.
Er kehrte um, hatte die Straße aber noch nicht ganz erreicht, als hinter ihm die heisere Stimme ungläubig krächzte: «Alex?»
Als er sich wieder dem Haus zudrehte, wiederholte Silvie verblüfft: «Alex.» Sie schniefte. «Hab ich doch richtig gesehen. Ich dachte schon, ich hätte eine Halluzination. Du bist es wirklich. Wo kommst du her? Bist du abgehauen?»
Klar. Mit einem zum Stilett geschliffenen Löffelstiel drei Wärter niedergestochen, den vierten als Geisel genommen und so weiter. Oder die tüchtige Frau Doktor Brand bei einem Freigang im Nacken gepackt, mit dem Gesicht in irgendein Gewässer gedrückt und sich aus dem Staub gemacht. Von Silvie hatte er so eine Frage nicht erwartet.
«Auf Bewährung entlassen», sagte er.
«Wann?»
«Donnerstag.»
«Und da kommst du jetzt schon her?» Bei ihrer verschnupften Stimme klang der Sarkasmus nicht gar so scharf.
«Ich hatte keine Ahnung, dass du hier wohnst», erwiderte er. «Hab nur mal eine Runde gedreht. Bisher bin ich nicht zum Laufen gekommen, hatte eine Menge zu tun. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es in einem Haus aussieht, in dem seit Jahren keiner mehr gewischt hat.»
Silvie nickte scheinbar verständnisvoll. «Ach, deshalb. Dann haben sie dich in Ossendorf wohl immer den ganzen Knast schrubben lassen, was? Musstest du auch die Gitterstäbe polieren? Sonst hättest du doch bestimmt mal Zeit für ein paar Zeilen gefunden.» Beim letzten Satz erlosch ihr Sarkasmus. Als sie weitersprach, klang sie verletzt: «Ich wollte keine Romane von dir, Alex. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht und ob du etwas brauchst.»
Er zuckte mit den Achseln, sollte sie daraus ableiten, was sie wollte. Es war ihm dreckig gegangen, im ersten Jahr, im zweiten, auch noch im dritten. Was er gebraucht hatte, hätte sie ihm nicht beschaffen können. Und daran hatte sie ihn mit jedem verfluchten Brief erinnert. Immer wieder alles aufgewühlt, bis sie endlich aufhörte zu schreiben und er sich um Abstand bemühen konnte.
«Willst du reinkommen?», fragte sie. «Oder hast du noch mehr zu putzen? Du kannst auch ruhig zugeben, wenn du Angst vor Viren hast.»
«Doch nicht vor ein paar Rhinos», antwortete er und grinste.
«Das sind aber ganz üble Rhinos», warnte Silvie. So sah sie auch aus. Die Augen glasig und rot umrandet, die Haut an Stirn und Wangen fleckig und fahl, die Nase wund bis runter zur Oberlippe. Aber da er anscheinend willkommen war, hätte hinter ihrem Rücken auch ein feuerspeiender Drache lauern können – er wäre ihr trotzdem gefolgt. Obwohl eine innere Stimme mahnte, es sei ein Fehler. Mit dem Schritt über ihre Schwelle würde er die Arbeit der letzten drei Jahre zunichtemachen.
Auf ihren Plüschpuschen schlurfte Silvie vor ihm her durch eine kleine Diele, die keinesfalls wie geleckt aussah, zu einem Wohnzimmer, in dem jeder auf Anhieb erkannte, dass ein Kleinkind im Haushalt lebte. Auf einer Decke, die wie ein Stadtplan gemustert war, lagen unzählige Holzklötze zwischen anderem Babyspielzeug. Neben dem Flachbildfernseher hing ein großer Bilderrahmen an der Wand, in dem mindestens drei Dutzend Babyfotos aus verschiedenen Lebensmonaten wie ein Flickenteppich zusammengesteckt waren.
Silvie hatte wohl auf der Couch gelegen. In Griffnähe auf dem Tisch standen eine Packung Kleenex, eine Dose Hustenbonbons und eine noch halb gefüllte Teetasse. Sie setzte sich, nahm den Schal ab, schob eine
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