Die Schuldlosen (German Edition)
Wolldecke zur Seite, griff nach der Tasse und trank einen Schluck, ehe sie fragte: «Kann ich dir etwas anbieten? Kaffee, Tee, Hustensaft?»
«Hustensaft hört sich toll an», erwiderte er.
«Hilft nur nicht.» Zum Beweis folgte ein Hustenanfall, der sich anhörte wie ein Kettensägenmassaker. Nachdem sie das Ärgste überstanden hatte und wieder Luft bekam, wollte sie wissen: «Was nun, Kaffee oder Tee? Ich hab schwarzen, grünen, Pfefferminz, Früchte und Fenchel. Mineralwasser ist leider alle. Lothar besorgt gerade Nachschub. Du hast ihn knapp verpasst. Er ist eben erst weg, wird aber wohl ein Weilchen unterwegs sein.»
«Macht nichts», sagte er. «Ich hab alle Zeit der Welt.»
«Und was willst du damit anfangen, außer putzen?» Zu einer Antwort kam er nicht. Es war typisch für sie. Kaffee und Tee waren belanglos. Und mit Belanglosigkeiten hielt Silvie sich nie lange auf. In ihren nächsten Sätzen schwang Sorge mit: «Du hast doch hoffentlich nicht vor, Dummheiten zu machen. Halt dich von Heike fern, Alex. Versprich mir das.»
«Klar», sagte er. «Vierzig Meter Abstand habe ich eingehalten, als ich die S-Bahn verlassen musste. Es können auch fünfzig Meter gewesen sein, ich hab nicht nachgemessen. Ich hatte sogar überlegt, ob ich bis zur nächsten Station durchfahre und zurücklaufe. Aber das war mir dann doch zu blöd.»
«Sorry», murmelte Silvie. «Ich dachte ja nur. Weil du damals im Gericht gesagt hast, es würde ihr noch leidtun.»
«Man sagt viel, wenn der Tag lang ist», erwiderte er und brachte sie dann rasch auf ein anderes Thema. Den Hasemann, dem sie die Flecken auf ihrem Hausanzug verdankte. Traubensaft, Spinat, Möhren, Pfirsichbrei, Kakao oder Schokoladenpudding, was kleine Kinder halt so zu sich nehmen und häufig wieder ausspucken.
Bereitwillig und stolz, wenn auch unterbrochen von weiteren Hustenanfällen und anschließenden Pausen, in denen sie nach Luft japste und ihre Kehle mit einem Schluck Tee schmieren musste, erzählte Silvie von ihrem Sohn. David hieß er, war sechzehn Monate alt.
Weil sie seit Anfang der Woche erkältet und es von Tag zu Tag schlimmer geworden war, hatte ihre Schwiegermutter den Kleinen am Donnerstag widerstrebend zu sich genommen. Lothars Mutter hatte es seit dem vollkommen unerwarteten Tod ihres Mannes – Herzinfarkt mit achtundfünfzig – angeblich mit dem Herzen.
«Wann ist Lothars Vater denn gestorben?», unterbrach Alex ihren Redefluss.
«Drei Wochen nach unserem Einzug hier», sagte Silvie. «Wusstest du das noch gar nicht?»
Er schüttelte den Kopf. Sie zog unbehaglich die Schultern zusammen. «Beim Innenausbau hat er noch kräftig mit angepackt, die Muskelhypothek übernommen. Mein Vater hatte einen netten Batzen Geld beigesteuert, und er wollte nicht hinter dem General zurückstehen. Ich glaube, er hat sich total verausgabt.»
Sie schwieg für ein paar Sekunden, offenbar in Erinnerungen an ihren Schwiegervater versunken. Dann plapperte sie weiter über die Leiden ihrer Schwiegermutter. Seit Davids Geburt klagte die zusätzlich über Arthrose in beiden Knien. Man hätte sie ja sonst häufiger bitten können, den Kleinen mal für ein Stündchen zu nehmen, damit Silvie zum Friseur oder zu ihrer Frauenärztin konnte. Aber von ihrem Enkel fühlte Frau Steffens sich meist schon nach zehn Minuten völlig überfordert.
«Wundert mich, dass sie bis heute durchgehalten hat», erklärte Silvie mit einer Stimme, für die Schweigen entschieden besser gewesen wäre. «Heute Mittag brachte sie David zurück. Sie meinte, übers Wochenende hätte Lothar doch Zeit, sich um den Kleinen zu kümmern. Das ist aber nicht Sinn der Sache. Wenn Prinz Knatschsack hier ist, steckt er sich garantiert bei mir an. Er kann noch nicht laufen, hängt mir ständig auf der Pelle. Jetzt macht Lothar die Einkäufe mit ihm, dann muss er zusehen, dass er ihn Oma aufs Auge drücken kann. Die nimmt ihn sonst auch immer.»
«Wie geht’s denn deiner Oma?», fragte Alex und hatte sekundenlang das Bild vor Augen mit dem er aufgewacht war: wie Franziska Welter auf Knien in der Kinderecke lag und mit bloßen Händen in einem Loch scharrte, in dem sie bereits bis zu den Ellbogen verschwand. Und neben ihr dieses hilflose, heulende Kind, das nun selbst schon ein Kind hatte.
Silvie ließ einen Bericht über ihre Großeltern folgen. Franziska war mit ihren achtundsiebzig noch fit und gesund. Sie jammerte jedenfalls nicht über irgendwelche Gebrechen und ging immer noch jeden Tag zum
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