Die Schuldlosen (German Edition)
Friedhof auf einen kurzen Plausch mit ihrem Mariechen. Das kleine Grab war damals nicht eingeebnet worden. Gottfried hatte Eingabe um Eingabe an die Stadtverwaltung und den Bürgermeister geschrieben, bis die Stadt ein Einsehen hatte.
Gottfried jammerte auch nicht, war aber in letzter Zeit zusehends weniger geworden. Es hatte den Anschein, als wolle er aus der Welt schrumpfen. Die Portionen auf seinem Teller wurden immer kleiner. Seit Anfang der Woche hatte er fast nichts mehr gegessen. Er hatte seit geraumer Zeit einen Leistenbruch, den er nicht behandeln lassen wollte, weil der Bruch angeblich keine Beschwerden machte. Und davon könne ihm auch nicht der Appetit vergangen sein, meinte Silvie. Er müsse Probleme mit dem Magen haben, die er jedoch leugnete. Oma bekniete ihn seit Dienstag, zum Arzt zu gehen und sich gründlich untersuchen zu lassen. Das hielt er für überflüssig. Ein Sturkopf war er ja früher schon gewesen, jetzt kam der Altersstarrsinn dazu. Na ja, er war zweiundachtzig, und sein Lieblingsspruch war neuerdings: «Keiner ist unsterblich.» Das klang immer, als wolle er sich verabschieden.
Nachdem das gesagt war, verlangte Silvie: «Jetzt erzähl du aber mal. Man hört so oft Horrorgeschichten aus Gefängnissen. Misshandlungen, Drogen und so. Wie ist es dir ergangen?»
Das ging sie einen Scheißdreck an. «Halb so wild», wich er aus, deutete auf den Rahmen mit den Babyfotos und wiederholte mit einem weiteren Grinsen, nach dem ihm überhaupt nicht war, den Ausdruck, den sie benutzt hatte: «Prinz Knatschsack? Was ist denn das für eine Bezeichnung für so einen süßen Fratz?»
Die Teetasse war leer. Auf ihr Getränkeangebot kam Silvie nicht noch einmal zurück. Sie steckte sich ein Hustenbonbon in den Mund, ehe sie antwortete: «Du müsstest ihn mal hören, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Er ist ein verzogener Bengel.»
«Und wer hat ihn verzogen, deine Oma?»
«Ich», gestand Silvie, lutschte ihr Bonbon und erzählte auch noch von tausend Ängsten in den ersten Wochen und Monaten als Mutter. Sie hätte wirklich nicht so viel reden dürfen. Mit jedem weiteren Hustenanfall wurde ihre Stimme brüchiger. Der Fieberglanz verlieh ihren Augen einen silbrigen Schimmer.
Als Lothar mit den Einkäufen und ohne Prinz Knatschsack zurückkam, hatte sie über neununddreißig Grad Fieber. Doch nicht nur aus dem Grund freute Lothar sich absolut nicht, Alex so unverhofft wiederzusehen.
Er bestand darauf, Silvie umgehend ins Krankenhaus zu bringen, ließ ihr nur die Zeit, den fleckigen Hausanzug gegen Jeans und Pullover zu tauschen. Und während sie das tat, versetzte er Alex einen völlig unerwarteten und deshalb umso schmerzlicheren Hieb mit der Waffe, die Lothar nun mal am besten beherrschte.
«Was willst du hier?», blaffte er ihn an, und damit meinte Lothar keineswegs nur den Aufenthalt in seinem Haus. Kaum hatte Alex begonnen, sein zufälliges Vorbeikommen zu erklären, wurde er schon unterbrochen. «Du hast doch nicht etwa vor, in der Villa zu bleiben? Willst du dir immerzu ansehen, wo du Janice ersäuft hast? Das ist ja pervers. Tu dir selbst einen Gefallen und such dir eine Wohnung irgendwo, wo dich keiner kennt, am besten hinterm Mond. Da kannst du laufen, bis dir die Luft ausgeht. Hier will dich keiner mehr haben, Alex. Und ich schätze, das werden sie dir klarmachen, sobald du dich im Dorf blicken lässt oder sich herumspricht, dass du wieder da bist.»
Der feindseligen Empfehlung zum Trotz lief Alex am frühen Sonntagnachmittag erneut an der Greve entlang in das Neubauviertel. Der dunkelgrüne Passat Kombi war nicht zu sehen. Vielleicht stand er in der Garage. Wie bei einem Streich aus Kindertagen drückte Alex kurz auf den Klingelknopf an der Haustür und rannte zurück zu einem Van vor der Nummer 36, der ausreichend Deckung bot.
Nichts passierte. Daraus zog er den Schluss, dass Silvie im Krankenhaus geblieben war und Lothar sie wohl gerade besuchte. Das wollte er auch tun, dabei jedoch nicht erneut dem Mann gegenübertreten, der ihn gestern abgekanzelt hatte wie einen Schwerkriminellen, was er sich nicht so recht erklären konnte.
Vor seiner Festnahme hatte Lothar tausend Entschuldigungen für ihn gefunden. In früheren Zeiten gewühlt, sich immer tiefer gegraben, bis er im Paradies ankam und einen Apfelbaum mit Schlange als Grund allen Übels ausmachte.
Dass Lothar anschließend auf Distanz gegangen war, konnte er noch nachvollziehen. Irgendwie musste ein Mann ja mit seinem
Weitere Kostenlose Bücher