Die Schuldlosen (German Edition)
Gewissen fertigwerden, wenn er Augenzeuge eines Verbrechens geworden war und das um einer Freundschaft willen mit sich allein abgemacht hatte. Dass Lothar mit seinem Schweigen zu kämpfen hatte, war schon vor Prozessbeginn klar gewesen. Deshalb hatte Frau Doktor Brand es nicht riskiert, ihm im Zeugenstand auch nur eine Frage mehr als unbedingt nötig zu stellen.
Nur war Lothar gestern Nachmittag nicht bloß auf Distanz gegangen. Er hatte unverhohlene Ablehnung und Wut demonstriert, mit drastischen Worten klargemacht, dass ihre Freundschaft der Vergangenheit angehörte. Aber eine weitere Begegnung ließe sich vermeiden, dachte Alex, als er sich ein Taxi rief.
Beim Krankenhaus stieg er aus, hatte vor, nach einer ersten Kontrolle des Parkplatzes durchs Städtchen zu bummeln und immer wieder zurückzukommen, bis der Passat verschwunden war. Doch den Wagen entdeckte er nirgendwo, also ging er gleich rein und erkundigte sich beim Pförtner nach Silvies Zimmernummer.
Sie hatte ein Einzelzimmer mit Fernseher, allerdings keine Münzen, um das Gerät in Betrieb zu nehmen. Da sie alleine war und vor Langeweile fast umkam, freute sie sich, als er eintrat. «Wenigstens einer erbarmt sich. Finde ich toll, dass du kommst. Ich hatte nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen, wo Lothar gestern so fies zu dir war.»
Darauf folgte ein kleiner Seufzer, anschließend bat sie: «Du darfst ihm das nicht übelnehmen. Er hat es bestimmt nicht so gemeint, wie es klang, ist schon seit Wochen gereizt und geht bei jeder Kleinigkeit an die Decke. Mit dir hat das gar nichts zu tun.» Womit es sonst zu tun hatte, erklärte sie nicht, wies mit dem nächsten Satz nur noch darauf hin: «Viel reden darf ich heute aber wirklich nicht.»
Und er hatte nicht vor, viel zu reden. Über die Zeit im Knast schon gar nicht. Schweigend beieinandersitzen war jedoch nicht Silvies Art. Das wusste er noch von früher. Es war nicht schwer, sie zu animieren und auszuhorchen.
Er begann mit unverfänglichen Themen, ihre Erkältung und die Unterbringung ihres Hasemanns. Silvie gab Auskunft – wie gestern mit vielen Unterbrechungen durch Hustenanfälle und darauffolgende Atempausen. Ein Arzt in der Notaufnahme hatte eine schwere Bronchitis diagnostiziert. Viel fehlte nicht zur Lungenentzündung. Hinzu kamen der Schnupfen und eine Halsentzündung. Trotzdem hätte sie nicht unbedingt im Krankenhaus bleiben müssen. Lothar hatte darauf bestanden, damit sie sich gründlich auskurierte und erholte, was sie daheim kaum getan hätte.
Am Vormittag war Lothar kurz bei ihr gewesen, hatte ein paar Sachen gebracht, auch ihre Handtasche, an die sie gestern in der Eile des Aufbruchs nicht gedacht hatte. Lothar hatte sich gleich wieder auf den Weg gemacht, um seinen Stammhalter bei ihren Großeltern abzuholen und den Knaben bis zum Abend zu beschäftigen. Da Lothars Mutter sich weigerte, Prinz Knatschsack erneut für mehrere Tage zu betreuen, musste Franziska einspringen. Gottfried zuliebe sollten sie am Sonntagnachmittag aber Ruhe haben und Kraft tanken für den Montag, hatte Lothar gesagt.
«Er ist noch genauso vernünftig wie früher, ganz anders als ich», gestand Silvie und plauderte trotz Redebeschränkung weiter.
Leider konnte Lothar zurzeit keinen Urlaub nehmen und sich von morgens bis abends selbst um David kümmern. Er war im öffentlichen Dienst beschäftigt, bearbeitete als Beamter bei der Stadt Köln Schulunfälle. Publikumsverkehr hatte er nicht, deshalb konnte er Gleitzeit machen und doch einiges tun, um Oma und Opa zu entlasten. Wenn er frühmorgens mit der ersten S-Bahn um halb sechs nach Köln fuhr, saß er zeitig genug im Büro, um schon kurz nach Mittag Feierabend zu machen. Dann hatte er den ganzen Nachmittag Zeit für David.
«Wenn Lothar ihn abends zurückbringt, muss Oma David nur noch hinlegen», schloss sie ihren Bericht und verlangte nach ihrer Handtasche. «Bist du so lieb und gibst mir die mal. Lothar hat sie in den Schrank gestellt. Da müsste ein Labello drin sein. Meine Lippen brennen wie Feuer.»
Natürlich war Alex so lieb. Und Silvie suchte nicht lange nach dem Pflegestift, sie kippte den stattlichen Inhalt ihrer Tasche aufs Bett, wühlte darin herum und regte sich auf, weil Lothar offenbar ausgemistet hatte. Dass er ihre Geldbörse herausgenommen hatte, weil in Krankenhäusern doch so viel geklaut wurde, hatte er ihr gesagt. Aber auch ihr Handy fehlte. Das mochte vernünftig sein, doch Silvie fand es unverschämt, schnappte sich den
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