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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Vernunft war Franziska in diesen Minuten so weit entfernt wie Helene seit Jahren. Sie lief in den Schuppen und holte die kleine Schaufel, mit der sie sonst Löcher aushob, um Blumen einzupflanzen. Dann rannte sie zum Friedhof.
    Silvie folgte ihr natürlich. Sie war noch keine vier Jahre alt und begriff nicht, was vorging. Warum ihre Großmutter sich mit der Schaufel über das Fleckchen Erde hermachte, an dem sie sonst die schönen Geschichten vom lieben Mariechen erzählte. Warum sie Blumen ausriss und weinte, warum sie tiefer und tiefer grub und versprach: «Ich hol dich nach Hause. Ich nehm dich mit. Ich lass nicht zu, dass sie dich plattmachen. Wo bist du denn?»
    Schließlich fragte sie nur noch: «Wo bist du denn?», warf die Schaufel zur Seite, grub mit den Händen weiter, lag auf Knien im Dreck und weinte immer lauter.
    «Ich bin hier, Oma», antwortete Silvie ein übers andere Mal und bettelte: «Steh doch auf.» Sie zupfte an Franziskas Kleidung, um sie aufmerksam zu machen, und weinte ebenfalls, weil ihre Großmutter nicht reagierte.
    Da kam Alex. Vom Spielen bei Lothar. Er nahm immer den Weg über den Friedhof und machte jedes Mal einen Abstecher zum Familiengrab. Meist stand er ein paar Minuten lang nur so da, die Hände vor dem Leib zusammengelegt, als bete er. Aber schon mehr als einer Frau, die ihn dabei beobachtet hatte, war der abgespreizte Mittelfinger aufgefallen.
    Diesmal zeigte Alex dem Grab nicht lange den Stinkefinger. Er hörte Silvie weinen und Franziska rufen und war Sekunden später bei ihnen. Wie er mit Franziska umgehen sollte, wusste er nicht. Ein neunjähriger Junge und eine völlig aufgelöste Frau. Zweimal sprach er sie an, tippte ihr auch mal auf den Rücken. Als sie nicht reagierte, nahm er das Kind bei der Hand.
    Er brachte Silvie zur Bäckerei Jentsch, übergab sie der vierzehnjährigen Heike und sorgte dafür, dass Martha zum Friedhof lief und sich um ihre Schwester kümmerte. Das war die erste und die letzte gute Tat, die man ihm in Garsdorf nachsagte.
Herbst 2010
    Samstags war das Wetter durchwachsen und merklich kühler als freitags. Über Nacht war die Heizung wieder ausgegangen. Die am Laufen zu halten bedurfte wohl etwas Übung und Erfahrung. Es regnete immer mal wieder. Ihn störte das nicht, weil er im Haus noch eine Menge zu tun hatte.
    Den ganzen Vormittag war er mit Saubermachen im großen Kaminzimmer und im früheren Lesezimmer, das trotz der vielen Bücher in den Regalen noch vor seiner Geburt in Fernsehzimmer umbenannt worden war, in der Eingangshalle, in Garderobe und Gästetoilette, im Treppenhaus und auf dem oberen Flur beschäftigt. Jede pedantische Hausfrau hätte ihre helle Freude an ihm gehabt.
    Aber nach Mittag reichte es ihm dann plötzlich mit der Putzerei. All die anderen Räume wollte er sich nach und nach vornehmen, langweilig würde ihm so schnell nicht werden. Er wechselte nur noch die inzwischen trockene Bettwäsche.
    Anschließend ging er hinaus zur Garage, um festzustellen, welches Gerät ihm für die Gartenarbeit zur Verfügung stand, weil er sich doch auch darum nun selbst kümmern musste. Und früher, das wusste er noch, hatten diverse Gerätschaften an einer Wand gehangen. Es hatte auch einen Rasenmäher gegeben, den fand er nicht, suchte aber auch nicht danach, weil der Mercedes, den der eiserne Heinrich gefahren hatte, solange ihm das noch möglich gewesen war, ihn sofort vom Garten ablenkte.
    Der Wagen war gut und gerne fünfundzwanzig Jahre alt. Und er erinnerte sich noch lebhaft an den Abend, an dem sein Vater zum ersten Mal damit vorgefahren war. Damals war er sieben oder acht gewesen. Genau hätte er sein Alter bei dieser Gelegenheit aus dem Gedächtnis ebenso wenig bestimmen können wie das, als Heinrich die Puppe köpfte. Nur die Situation hatte sich eingeprägt und ebenso Spuren hinterlassen wie vieles andere.
    Zusammen mit seiner Mutter war er nach draußen gegangen, um das Prachtstück zu bewundern. Ein wunderschönes Auto. Als Junge konnte er das beurteilen. Und er war ein Junge! Mit sieben oder acht Jahren war er sich dessen schon vollkommen sicher gewesen. Einige nannten ihn längst Satansbraten und verboten ihren Söhnen den Umgang mit ihm. Wie die Mutter von Lothar Steffens, der sich von dem Verbot aber wenig beeindrucken ließ.
    «Darf ich mich einmal hineinsetzen, Papa?», hatte er gefragt.
    Und war angefaucht worden: «Nichts da! Du lässt deine Finger von diesem Wagen!»
    Das klang ihm wieder im Ohr, als er nun eine Hand

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