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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Unglück zugewandt, denn sein Gesicht wirkte verschlossen. Er war jemand, der irgendetwas tun musste, wenn ihn eine Situation beunruhigte. Ich kenne Männer, die Holz zu hacken beginnen, andere gehen in den Stall und striegeln ihr Pferd. Der untersetzte Manfridus gehörte zu denjenigen, die ihren Mund in Tätigkeit versetzen: Er fischte eine Nuss vom letzten Jahr aus einer Tasche, knackte sie umständlich und begann dann, hastig darauf herumzukauen.
    »Armer Junge«, seufzte er. »Ich hoffe bloß, dass nicht er es ist, den sie im Arsenal gefunden haben.«
    Ich wies auf Dandolo, der draußen in das nachmittägliche Sonnenlicht blinzelte und den Hut auf den Kopf stülpte. »Er jedenfalls glaubt es schon.«
    Enrico Dandolo eilte uns voran; die Schritte seiner schmalen, spitzen Schnabelschuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster und trugen ihren Teil bei zu dem Lärm, der in der Stadt widerhallte. Venedigs Gassen waren zu jeder Tageszeit voller Menschen. Das Fehlen der Ochsenkarren und der Fuhrwerke, hoch beladen mit Heu, Holz oder Lebensmitteln, war wohltuend – die Venezianer lieferten einen großen Teil ihrer Vorräte über die schiffbaren Kanäle an, deren Netzwerk beinahe vor jedes Haus führte. Die Stadt wirkte deshalb jedoch nicht weniger bevölkert. Die Gassen waren so eng, als wären sie lediglich ein Vorwand für die städtebauliche Notwendigkeit gewesen, festen Boden aufzuschütten, um die ersten Häuser zu errichten. Diese wandten demnach auch ihre Prachtseiten dem Wasser zu und kehrten ihre abweisenden rückwärtigen Mauern gegen das Volk, das durch die Gassen lief.
    Michael Manfridus’ Herberge – nicht die einzige der Stadt, deren Besitzer aus dem Deutschen Reich stammte, aber sicher eine der besten – lag im Stadtsechstel von Cannareggio, ein paar Schritte von einem kleinen Platz mit einer altertümlichen Kirche entfernt, die den heiligen Aposteln gewidmet war, abseits vom Hauptstrom der Passanten. Von seinem Haus war es nicht mehr weit zu der mächtigen hölzernen Zugbrücke, die als einzige über den Canàl Grande führte. Der große Kanal wand sich als flussbreiter Wasserweg durch das Herz der Stadt, ein elegant geschwungener Schnitt mit zwei engen Kehren, in denen die sestieri San Polo und San Marco lagen, das beliebteste Wohnviertel und das politische Machtzentrum der Venezianer. San Polo schmiegte sich in die Westkehre des Kanals und wandte sich dem Festland zu, während San Marco in der engeren Ostkehre lag und damit auf die Lagune und das offene Meer führte. Selbst mir, der Venedig vor diesem Besuch nur einmal gesehen hatte, war die Symbolik klar.
    Über tiefer gehende Kenntnisse der Stadt und ihrer Geografie verfügte ich nicht; ich wusste lediglich, dass Cannareggio nördlich von San Polo und San Marco lag und im Vergleich zu diesen beiden sestieri zu den eher stillen und bescheideneren Gegenden zählte. Mein – unser – erster Besuch in der Lagune hatte vor nur wenigen Wochen stattgefunden. Nun war es kurz nach Pfingsten. Unser erster Aufenthalt hätte der Abschluss von Janas fast dreijähriger Reise durch das Heilige Römische Reich sein sollen, wenn sie nicht die Botschaft vom Tod ihres Vaters überrascht hätte. Der Tod von Karol Dlugosz machte Jana zur Erbin des reichen Handelshauses Dlugosz, und ihre Vettern legten ihr in ihrer unverschämten Botschaft nahe, zurückzukehren und die Verantwortung in die Hände eines männlichen Verwandten zu legen. Selbstverständlich war Jana einer anderen Strategie gefolgt und hatte sofort einen Geschäftsabschluss geplant, der den Reichtum ihres Hauses für die nächsten Generationen hätte sichern sollen – wenn uns nicht der Aufstand der Familie Pazzi in Florenz dazwischengekommen wäre und ich nicht all meine Anstrengungen darauf hätte konzentrieren müssen, Janas Verurteilung wegen einer Beteiligung an dieser Verschwörung zu verhindern und den Schuldigen zu finden, der sie als Sündenbock vorgeschoben hatte.
    Nun waren wir ein zweites Mal hier – ungeplant, von Janas plötzlicher Erkrankung zu einem Aufenthalt gezwungen, der weder ihr noch mir sonderlich gelegen kam. Vor zwei Tagen waren wir abends in Manfridus’ Herberge eingetroffen, und der Herbergswirt, bei dem wir während unseres ersten Aufenthalts in Venedig darauf gewartet hatten, dass sich für uns die Teilnahme an einer Reisegruppe ermöglichte, in deren Schutz wir nach Florenz hatten gelangen können, hatte uns überschwänglich willkommen geheißen. Er erkannte uns

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