Die schwarzen Wasser von San Marco
Gassen waren das Sonnenlicht und die leichte salzige Brise eine Wohltat. Die Nachmittagssonne glitzerte auf dem Kanal und wob Lichtreflexe um die Insel von San Giorgio Maggiore, deren prachtvolles Benediktinerkloster sich eine Viertelmeile entfernt gegenüber dem Markusplatz aus dem Wasser erhob. Dazwischen ankerten oder fuhren Wasserfahrzeuge in allen Größen und Arten: schreiend bunte gondole , mächtige Koggen sowie prachtvolle venezianische Galeeren, die mit ihren Ruderreihen über den Kanal glitten wie riesenhafte Insekten auf tausend Beinen. Eine Reihe in einheitlichen Farben gestrichener gondole schwamm als plumpes Verkehrshindernis in all diesem Gewirr, ihre sonstige Eleganz verschenkt an die von ihnen gebildete Kette, über der ein quer über alle Boote hinweg gespanntes Tuch ein Familienwappen zur Schau stellte. Das Wappen war in den gleichen Farben wie die Gondeln gehalten, und wer die Prozession nicht wegen ihrer trägen Auffälligkeit im wimmelnden Schiffsverkehr beachtete, der wurde durch die gleichmäßigen, von den Bootsführern geschlagenen Trommeltakte auf sie aufmerksam gemacht.
Dandolo widmete dem Anblick keine Sekunde. Er wischte sich über die Stirn und trocknete sich die Hand gedankenlos an seiner Tunika ab, bevor er uns zunickte und gleichzeitig ostwärts wies. Der Kai beschrieb eine lang gezogene Kurve; Ladekräne und Speichertürme ragten in einiger Entfernung hinter den Häusern empor, Schiffe drängten sich im Wasser in ähnlicher Zahl wie vor dem Markusplatz, und über die Köpfe der Flanierenden hinweg sah ich, wie sich eine hölzerne Zugbrücke erhob.
»Das ist das Arsenal«, sagte Manfridus. »Nur, wie sollen wir hineinkommen?«
»Ist es denn nicht zugänglich?«
»Wo denken Sie hin? Das ist unmöglich. Das Arsenal ist das Herz der venezianischen Seemacht. Niemand kommt dort hinein, der nicht das Vertrauen des Senats oder wenigstens der patroni dell’Arsenale genießt.«
»Offenbar hat es ein kleiner Junge geschafft.«
»Und mit dem Leben bezahlt.«
Wir kamen gerade rechtzeitig. Die Zugbrücke führte über einen breiten Kanal, der in gerader Linie bis zu einem vergatterten Tor verlief. Das Tor selbst war eine mächtige Holzkonstruktion zwischen zwei gedrungenen Türmen, auf denen ich einige Wachen entdeckte, und versperrte den Kanal in seiner ganzen Breite. Am Ostufer des Kanals folgte ein gepflasterter Weg seinem Verlauf bis zu dem Tor. Die Türme stellten lediglich die Endpunkte einer langen Mauer dar, die sich sowohl nach Westen wie nach Osten fortsetzte. Kurz vor dem Tor führte ein hoher Steg vom Uferweg wieder hinüber auf die andere Seite und zu einem kleinen Platz. Hier befand sich, bewacht von seinem schmucklosen Torbau, der Fußgängereingang zum Arsenal. Nachdem wir uns durch die widerwillig beiseite rückende Menge bis dorthin geschoben hatten, begann Enrico Dandolo mit dem halben Dutzend Männer zu diskutieren, die mit Schwertern und Spießen bewaffnet waren und dafür sorgten, dass keiner dem Tor zu nahe kam. Sie schüttelten ungerührt die Köpfe.
Dann jedoch traten drei weitere Männer aus dem Inneren des Arsenals, die etwas mit einem Leintuch Verhülltes auf einem Brett zwischen sich trugen. Die Wächter machten den Weg frei; auch Dandolo wich zurück. Der Anführer der drei Männer sah sich um, als beunruhige ihn der Auflauf vor dem Tor. Er war groß und schlank, hatte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht und hielt sich auffallend gerade. Sein Haar begann zu ergrauen; es musste einmal von jenem Schwarz gewesen sein, das früh zum Erbleichen neigt. Ich schätzte ihn um zehn Jahre jünger als mich. Er war barhäuptig und trug schlichte, dunkle Kleidung, an der wenige Farben und gar kein Schmuck auffielen. Er bewegte sich mit unterdrückter Energie, schien konzentriert und wütend zugleich zu sein.
Dandolo fasste sich ein Herz und trat vor, wobei er sich bemühte, nicht zu dem Brett hinunterzusehen, das die beiden anderen Männer – ihrer Kleidung nach Wächter des Arsenals wie die Burschen vor dem Tor – auf den Boden gelegt hatten. Was darauf lag, sah aus wie ein mit einem Tuch verhüllter Mensch. Es war ein Mensch. Es war die Leiche eines Jungen, der wahrscheinlich Pegno Dandolo hieß und von dem sein Onkel gehofft hatte, ihn durch meine klugen Ratschläge lebend wiederzufinden.
Der Mann mit den grau melierten Haaren wechselte ein paar Worte mit Dandolo, dann kniete er neben dem Leichnam nieder und forderte Dandolo auf, es ihm nachzutun. Der
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