Die schweigenden Kanäle
kleinen, schnellen Zügen seinen Whisky aus. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und zog die Nase kraus.
»Wir müssen heute abend endlich weiterkommen, Sergio!« sagte er hart. »Diese dumme Inszenierung mit dem senilen Panterosi ist zum Kotzen! Verdammt noch mal … es geht um andere Dinge! Was interessiert uns, ob er Krebskranken auf die Beine hilft?!«
»Immerhin ist es ein nettes Nebengeschäft.« Cravelli drehte den alten Globus und ließ seine Finger über die Welt gleiten. »Auf der einen Seite können wir Millionen machen mit einem Anticarcinommittel … auf der anderen Seite –« Er schwieg und sah Patrickson sinnend an. »Die Möglichkeiten sind gar nicht ausdenkbar!«
»Ich denke an sie«, sagte Patrickson trocken. »Die Spitze der Menschheit wird aus zwei Köpfen bestehen.«
»Ist das nicht ungeheuerlich?!«
»Wie man's nimmt! Mich macht es glücklich.«
»Und wenn wir uns verrechnen?«
»Das ist nicht mehr möglich! Die dämlichen 10 Milligramm, die er mitgebracht hat, soll er nicht an Affen verplempern! Hat er überhaupt die Formeln mit?«
»Ich habe nicht danach gefragt. Er ist mißtrauisch.«
Patrickson goß sich ein neues Glas Whisky voll. Sinnend starrte er in die goldgelbe Flüssigkeit.
»Wenn er die Formel nicht bei sich hat …«
»Dann wird er sie holen!«
Patrickson sah Cravelli fast mitleidig an. Seine Augen strahlten dabei aber eine Kälte aus, daß Cravelli unwillkürlich die Schultern zusammenzog, als friere er.
»Als ob er zurückkäme, wenn er Venedig wieder verlassen hat –«
»Aber ohne Formel … nur mit 10 Milligramm …« Cravelli schob die Unterlippe vor.
»Wir werden heute abend weitersehen.« Patrickson lächelte wieder. »Es gibt bei allen Menschen eine Grenze der Widerstandskraft … physisch und psychisch! Auch Berwaldt hat sie. Es wird an uns liegen, sie zu finden … und so schonend wie möglich –«
Sergio Cravelli nickte. Jetzt fror er wirklich und drehte sich zu den hohen Bücherwänden um, um Patrickson nicht ansehen zu müssen.
*
Im großen Saal des Palazzo Barbarino war eine Festtafel gedeckt. Zwei Diener in schwarzer Livree bedienten von silbernen Tellern, Platten und Schüsseln. Nur vier Personen saßen an dem mit weißem Damast gedeckten langen Tisch, auf dem drei vierarmige, vergoldete Leuchter mit dunkelvioletten Kerzen standen, deren Licht über die geschliffenen Gläser und Karaffen zitterte: Sergio Cravelli, James Patrickson, Dr. Berwaldt und ein kleiner, dicker, schwarzlockiger ungeheuer kurzsichtiger und lebendiger Mann: der Chemiker Tonio Dacore, der aus Tanger herübergeflogen war. Durch seine dicken, geschliffenen Brillengläser sah er während des Essens öfter zu Dr. Berwaldt hinüber, ihn musternd und wie einen Gegenstand, den man kaufen will oder der zur Versteigerung angeboten wird, abschätzend und taxierend.
Cravelli hatte ihn mit den Worten vorgestellt: »Hier treffen zwei Genies aufeinander: Dottore Berwaldt … Dottore Dacore. Aus dieser Begegnung müßte so etwas wie eine Sternstunde der Menschheit entstehen!«
Man hatte sich höflich begrüßt, die Hand gedrückt und ein paar allgemeine Worte über die Schönheit Venedigs gewechselt. Dacore berichtete von Tanger. Die Kunststoff-Forschung mache gute Fortschritte. In ein paar Jahren würden alle Menschen nur noch Stoffe aus der Konzernretorte tragen.
»Weich wie Merinowolle ist die Faser!« sagte Dacore. Seine Äuglein glitzerten unter den dicken Brillengläsern. »Und zehnmal zerreißfester. Wir haben sie zwei Monate in konzentriertes Salzwasser gelegt … Ergebnis gleich Null! Der Stoff wurde getrocknet, gebügelt und sah wie neu aus der Webmaschine gekommen aus!«
»Ein Riesenerfolg!« rief Cravelli und prostete nach allen Seiten mit einem Glas dunkelrotem Marsala. Dacore winkte mit beiden Händen ab.
»Noch nicht! Noch nicht! Eine unangenehme Eigenschaft hat die Faser immer noch … aber das bekommen wir auch weg!«
»Und das wäre?« fragte Patrickson uninteressiert.
»Die Faser erzeugt auf der menschlichen Haut eine leichte Allergie. Wo sie längere Zeit aufliegt, beginnt es zu jucken!«
»Großartig!« schrie Cravelli gutgelaunt. »Die erste Produktionsserie beginnen wir mit Damenschlüpfern!«
Tonio Dacore wieherte laut. Patrickson verzog schief den Mund, Berwaldt lachte mit. Nichts an der fröhlichen Männerstimmung verriet, daß im Hintergrund eine endgültige Entscheidung lauerte. Zehn Meter von ihnen entfernt war etwas vorbereitet, von
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