Die Schwert-Legende
wieder hinlegen.
Diesmal doch mit einem Buch. Ali befand sich auf dem Weg zum Regal, als er stockte.
Am Fenster hatte er eine Bewegung gesehen. Ein vorbeihuschender Schatten, mehr nicht.
Ein Vogel?
Wenn er an Vögel dachte, kam ihm der Gedanke an Shimadas Totenvögel. Ali wollte es wissen, beugte sich aus der Öffnung und schaute in den leeren Himmel.
Vielleicht doch eine Täuschung.
Der Junge drehte sich um. Die folgenden Sekunden liefen wie ein Film ab. Der Junge sah noch das Zittern der langsam zufallenden Tür, öffnete den Mund, um zu schreien, doch die Laute erstickten bereits im Ansatz, denn die Spitze eines Samurai-Schwerts wies genau auf seine Brust…
***
Ali hatte die Arme halb erhoben. Nun sanken sie mit einer ruckartigen Bewegung herab, als würden sie nicht mehr zu ihm gehören. Nicht nur die Klinge starrte er an, auch die Gestalt, dessen rechte Hand sie hielt. Es war Shimada!
Die lebende Legende, der furchtbare Dämon, der ihn mit seinen grausam-kalten Augen anschaute und ein Gefühl der Angst schaffte, das wie ein Eisklumpen in seinem Gehirn festlag.
Shimada war da!
Allein, ohne seine Vögel, ohne die Festung, nur er und Ali, der Schüler des Yakup Yalcinkaya.
Allmählich stieg das Wissen in ihm hoch. Seine schrecklichen Angstzustände fielen ihm wieder ein. Er hatte es gespürt, er hatte nur nicht gewußt, daß es so schlimm werden würde.
Die Schwertspitze zitterte nicht. Sie wirkte so ruhig wie die Hand, die sie hielt.
Shimada sagte nichts. Es war ihm auch nicht anzusehen, ob er den Moment der Überraschung genoß, in seinen kalten Augen regte sich nichts, und hinter dem Gesichtsausdruck war auch nichts von einer Mundbewegung zu erkennen.
Sekunden verstrichen. Sie wirkten zäh wie altes Leder. Ali kam sich vor wie in einem Dampfbad. Er schwitzte, er starrte und schielte zugleich nach seinen Waffen.
Shimada hatte den Blick bemerkt. Er schüttelte den Kopf. Ganz leicht nur, aber diese Geste reichte aus, um Ali die Ausweglosigkeit seiner Lage erkenntlich zu machen.
»Was… was willst du hier?« Er wunderte sich, daß er sprechen konnte und wunderte sich ebenfalls über seine Stimme, die ihm vorkam wie eine andere.
»Nur wir beide!« lautete die flüsternd gesprochene Antwort. »Nur wir beide.«
»Ja, ich weiß, aber…«
»Ich bin gekommen, um dir zu berichten, daß Yakup es geschafft hat. Ja, er hat es geschafft!«
Für einen Moment durchzuckte Freude das Herz des Jungen. »Hat er das Schwert der Göttin bekommen?«
»So ist es.«
Ali strahlte, er wollte noch etwas sagen, aber Shimada blickte ihn nur an. In diesem Moment wußte Ali, daß er den Preis dafür zu zahlen hatte, daß Yakup nun am Ziel seiner Wünsche angelangt war.
»Er hat es mir genommen«, erklärte Shimada wieder mit seiner Flüsterstimme. »Er hat genommen, was mir eigentlich gehört. Darum werde ich ihm auch etwas nehmen.«
Ali hob die Hand. »Meinst du etwa, daß ich…?«
»So ist es. Du bist allein, auch wenn du Hilfe bekommen würdest, es würde dir nichts nützen. Ich habe deinen Tod beschlossen, Ali, deinen Tod.«
Er lauschte den Worten nach und spürte, wie cool er plötzlich war. Er und Yakup hatten oft über den Tod gesprochen und auch darüber, wie es sein würde, wenn die Stunde einmal kam. Sie hatten sich innerlich darauf vorbereitet. Beide gingen davon aus und waren auch fest davon überzeugt, daß der Tod auch ein neuer Anfang war. Ob es nun schmerzte oder nicht. Es würde wieder etwas beginnen. Schmerz?
Ali dachte darüber nach und merkte, daß ersieh konzentriert hatte. Weshalb schmerzte seine rechte Hand so stark? Was war überhaupt geschehen? Er schaute hin, sah das Blut und die Klinge, die durch die Hand gefahren war.
»Es ist meine Rache, Junge!«
Da zerriß etwas Alis Brust. Es war furchtbar, es war einfach grausam. Die Schmerzen, die Schatten, das Blut.
Sie hörten erst auf, als Shimada die Klinge aus dem Körper des Gestorbenen zog.
Ali war vor seine Füße gefallen. Er lag verkrümmt, unter seinem Körper bildetete sich eine rote Lache.
Shimada hob sein Schwert. Es sah so aus, als wollte er noch einmal zuschlagen und gegen den Hals des Jungen zielen. Dann ließ er die Waffe sinken und verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Erst zwei Stunden später wurde Ali gefunden. Sie hoben ihn auf und hatten schon vorher gewußt, daß sie einen Toten in den Armen hielten…
***
San Francisco - International Airport.
Von der Kälte in die frühsommerliche Wärme und noch tiefer in
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