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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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vorgekommen. Ihre sich bewegenden Straßen auf den Baumstümpfen erscheinen mir wie Zeichen einer fernen Welt auf den Mauern der Zeit. Eine in ihre Bedeutungen eingeschlossene Welt. Was für ein gekünstelter Satz; das passiert mir immer, wenn ich über etwas rede, was mich fasziniert, ich benutze eine metaphorische, etwas zu geschraubte Sprache, wie ich es auch in der Poesie mache, im Grunde schnappe ich einfach über und glaube dabei, originell zu sein. Ich werde mein Entsetzen nie vergessen, das ich vor langer Zeit einmal empfand – ich lebte damals noch bei den Eltern –, als ich im Hof meine Hand auf die Tischkante legte. Ich war da auf eine harte Geschwulst gestoßen, die sich unter der Tischdecke krümmte. Meine Hand zuckte zurück, ich hatte das Gefühl, eine dort eingenistete, aus dem Kniegelenk gerissene Knorpelscheibe zu berühren. Wie ein Tumor, wie ein aus unbekannten Galaxien herabgekommener Fremdkörper, ein schlimmes Vorzeichen, eine Drohung. Plötzlich war ich umgeben von einem gelben, bösartigen Summen. Wespen schwärmten in alle Richtungen, kleine Partikel lebender Materie, angesogen von kosmischen Magneten … ich war auf ein Wespennest gestoßen. Von wo bin ich gekommen und wo bin ich gelandet! Ich produziere auf gut Glück Science-Fiction. Aber meine Freundin Terry hatte sowieso etwas anderes zu tun. Auf Leserbriefe zu antworten, lastete ihr Gehirn nichtaus und beanspruchte nicht ihre intellektuelle Energie. Sie war bereit, jeden Kompromiss einzugehen, um in die Nähe der besseren Gesellschaft zu gelangen. Sie trug in ihrer vollgestopften Sporttasche ein rumänisch-englisches Wörterbuch mit sich herum, außerdem ein rumänisch-französisches und ein Vokabelheft, um diese beiden Sprachen zu lernen; bis hierhin nichts Außergewöhnliches, aber was mich aufregte, war ihr Heftchen für Ausdrücke, Redewendungen und berühmte Zitate, die sie verschiedenen Büchern und deutschen Zeitschriften für Philosophie und Literaturtheorie entnahm. Es war klar, Terry wollte Eindruck schinden, aber bei wem? Bei einer Pressekonferenz hatte sie Gelegenheit, Dieter Lencke kennenzulernen, einen deutschen Schriftsteller, der während der Proletkult-Zeit in Mode gekommen war. Er war Redaktionssekretär der Neuen Literatur. Ein Mann um die sechzig mit Bauch und Glatze, der aber großen Erfolg bei den Debütantinnen hatte. Terry brachte ihre gesamte freie Zeit damit zu, Sätze zu bilden, in denen sie gewöhnliche Begriffe durch seltene Neologismen ersetzte; sie trainierte, damit ihr Gebrauch im gegebenen Augenblick reflexartig funktionierte. Zweifellos verfolgte sie einen Plan. »Ich muss ihn überzeugen, er muss mir Aufträge für die Zeitschrift geben; ich will unbedingt, um jeden Preis, die feste Rubrik für Literaturkritik bekommen«, sagte sie, als ich stichelte, sie wäre inzwischen eine schlimmere Streberin als damals an der Uni.
    Am liebsten würde ich dieses fade Gerede über meine Jugend mit Terry aufgeben. Je mehr ich mich in dieses Thema verrenne, desto heftiger gähnt er, verbirgt nicht einmal aus Anstand seine Langeweile. Ich versuche in diesem grünen,wässrigen Blick zu lesen, warum er seine Zeit damit vertut, mir zuzuhören. Nur ein körperlicher Reiz oder eine maßlose Bewunderung für einen brillanten Verstand könnten diese hündische Treue erklären. Aber beide Hypothesen sind auszuschließen. Wer weiß, vielleicht hat er eine seltsame Vorliebe für das Sammeln von Museumsstücken. Aber auch diese Möglichkeit hat weder Hand noch Fuß; ich glaube, ja ich hoffe wenigstens, dass mich keiner jemals für museumsreif halten wird.
    Ich sah, Terry war sich unschlüssig, ob sie es mir sagen sollte oder nicht, aber dann erzählte sie mir doch alles, und nicht etwa nur aus Ungeduld, sondern vor allem, weil sie mich für den tolerantesten Menschen der Welt hielt. Wenn sie mich necken wollte, rief sie mich auf den Redaktionsfluren Toleranza statt Anna. Zuerst redete sie um den heißen Brei herum. Glaubst du, dass Lencke den jungen Kollegen ganz uneigennützig unter die Arme greift? Von wegen! Bei ihm gibt es nichts umsonst. Auf Heller und Pfennig habe ich dafür bezahlt, dass meine Artikel in der Neuen Literatur erschienen sind. Ich musste ihn ins Schwimmbad begleiten, seinen Bauch ansehen, der ihm über die Badehose hing, und die an der Haut klebenden nassen Haare an seinem Nabel. Ich musste ihm den Nacken und seinen fettigen Rücken massieren. Wenn er mich dann ins Capşa mitnahm und ich einen kleinen

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