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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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abwärtsführenden Gässchen hinter dem Stephansdom, wo auch heute noch die alten Wirtshäuser aus Mozarts Zeiten stehen, ich weiß nicht, vielleicht war es sogar die Fleischgasse, wir gingen in eine Kneipe, ich sah den dunkelhäutigen Wirt, hörte ihn sogar, er sprach mit seiner Frau Rumänisch, und auf dem Tresen abseits der Flaschen und Gläser thronte meine Schreibmaschine. Ich wollte sie von dort herunternehmen und wieder gehen, doch der Wirt, er wirkte eher wie ein Zigeuner, nicht wie ein Wiener, lud uns zum Essen ein und brachte zwei Teller mit Totenkuchen, in dem die Fahne der Europäischen Union steckte. Wir ließen die zwei Teller und die Schreibmaschine auf der Theke stehen und flohen zum Ende der Straße, die auf den schmalen Strand von 2. Mai führte. Die Wellen rollten schnaubend und ineinanderschlagend heran, es waren Pferde, eine Lawine weißer, schäumender Pferde, und hinter ihnen, wo der Tumult des Wassers sich beruhigt und in einen kleinen Golf mündet, dort sah ich zwei schwarze, pompös geflaggte Leichenwagen, die sichentfernten. Ich weiß, dass ich mit Nino sofort von dort wegging, ich sagte ihm sogar, dass das wohl eine Drohung sein musste, du weißt doch, was man von Samstag auf Sonntag träumt, geschieht auch, und wir gelangten zu den Gleisen einer Bahnstation, viele Züge voller Soldaten kamen dort durch, sie fuhren an die Front, und wir stellten uns gehorsam in die Schlange, bis auch unser Zug einrollte. Ich weiß nicht, ob solche Träume eine Bedeutung haben. Ich merke sie mir nicht aus Angst vor ihrem Inhalt, sondern weil man mir nachsagt, ich träume literarisch, manchmal schreibe ich sie auf, um sie eventuell in einem Gedicht oder einem Prosatext zu verwenden. Du siehst ja, was ich seit mehr als zwei Stunden mache, ich erzähle dir weit zurückliegende Erinnerungen und Träume. Nichts von dem, was in der Gegenwart geschieht oder mich in eine Zukunft mit einschließen könnte. Wenn ich genau darüber nachdenke, ist das auch ganz richtig so. Mein Leben spielt vollständig in der Vergangenheit, in den Erinnerungen lebe ich wieder auf, so wie in den Träumen, meiner einzigen Gegenwart; und die Zukunft, in der ich auf keinerlei Weise mehr existiere, ist ein Raum, in dem ich verlösche, noch bevor die Biologie mich ausradiert haben wird. Nicht nur die Biologie, fürchte ich. Ich habe große Angst vor dem Sterben, besonders weil es mir schwerfällt, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Mein Gehirn reagiert tagtäglich logischer und wird immuner gegen die Angriffe obskurer Behauptungen, denen jedes greifbare Argument fehlt. Ich kann das grausame Bild des universellen Mülls nicht loswerden, den die Toten sämtlicher Gattungen ohne Unterlass produzieren. Hast du den Leichengeruch über der Stadt nicht gerochen?

Vor allem in den umliegenden Parks, in denen sich so viel Verwesendes ansammelt. Und sie haben im Fernsehen 36 Grad vorhergesagt, wie im Sommer. Ein launisches Klima, dieser Herbst ist eine Jahreszeit der Fäulnis. Man mag nichts mehr für seine Selbsterhaltung tun. Mag nicht einmal mehr essen, sprechen, Liebe machen. Eine unendliche Appetitlosigkeit überkommt den Willen, als hätten nicht einmal die Zellen noch genug Kraft, sich zu erneuern. Im Herbst wird im Schlaf gestorben. So wie die Seidenraupen verschwinden, nachdem sie sich in ihre Kokons eingesponnen haben wie in Leichentücher. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie mir in ganz gewöhnlichen Gesprächen Sätze entschlüpfen, die eher in ein Gedicht passen, und weißt du, das ist einer meiner wenigen Beweise, dass ich Dichterin bin, dies und, wie du gesehen hast, meine Träume. Ich weiß nicht, deutet das, was ich sage, auf Bescheidenheit hin, oder auf Eitelkeit. Jedenfalls habe ich mich bewusst dazu erzogen, nicht bescheiden zu sein, und gebe mir immer noch Mühe, es zu lernen. Bescheidenheit ist eine altmodische und lächerliche Tugend, eine dieser Tugenden, die unsere Eltern uns eingepflanzt haben, während sie uns in einen Dschungel warfen. Die Armen, wieso wussten sie nicht, dass sie ihre Kinder mit einer solchen Erziehung umbringen. Manche nehmen im Vorbeigehen andere Fähigkeiten an. Terry zum Beispiel. Als ich sie kennenlernte, hatte sie noch nicht diese Gier, sich auszubreiten, drei Stufen auf einmal zu nehmen, den gesamten Raum auszufüllen, an kleineren Stationen nicht mehr Halt zu machen, die Bahnhofsvorsteher mit der Hand am Mützenschirm hinter sich zu lassen. Terry war ein einsames Mädchen gewesen, einMädchen

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