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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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wie eine flüchtige Handbewegung, mit der man einen unliebsamen Satz fortwischen will.
    Sooft dieser Blick sich über sie ergießt, denkt sie an Pflanzen. An diese kriechenden Stängel denkt sie, die langsam alles überwuchern, Marmor und Basalt und Granit zersprengen. Eine barbarische, aggressive und reine Vegetation, wie das Gras, das du durchschreitest und dabei Furcht und Freiheit empfindest wie zu Anbeginn der Welt. So wie ein Städter, wenn er die asphaltierte Straße verlässt und aufs Feld hinauskommt. Die Begierde der Fußsohlen, wenn sie die Erde berühren, ein Gefühl von Zärtlichkeit, und der Stolz des Eroberers, ein Herrschersein, etwas zugleich Männliches und Weibliches, so liegen die Zigeuner stundenlang im Gras, alslauschten sie der Tiefe, so liegen Kinder ins Gras gestreckt mit jenem kaum erklärbaren, den Erwachsenen verloren gegangenen Glücksgefühl ihres Körpers, dessen Geschlechtlichkeit noch auf sich warten lässt. Nur die Zigeuner, die Kinder, die Tiere kennen diese Trunkenheit des Grases, denn sie, die von der Zivilisation noch Unberührten, haben Instinkt. Anna merkt, dass sie zu poetisch geworden ist, will sich loslösen, ihre Intelligenz in Gang setzen und in ein anderes Register wechseln. Ich glaube, der Instinkt duldet viel eher die langsamen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen der Natur. Der Instinkt fürchtet die Sprünge, die Schocks. Damit erkläre ich mir auch, dass alte Leute sich unmöglich auf etwas Neues einlassen können. Denn während ihr Verstand zunehmend verflacht, bleibt der Instinkt bis zuletzt wach. Er klammert sich ans Leben, für diese eine Freude, die ihnen noch bleibt, zu spüren, wie die Sonne ihre Haut wärmt. Sie kehren zurück zur Natur. Sie lieben die Natur. Die jungen Leute gehen an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, für sie ist das gesellschaftliche Leben viel attraktiver, spannender, dort haben sie ihre Kampfzone, die Arena ihrer Bestätigung. Die Alten steigen immerzu abwärts, der Erde, den Wurzeln entgegen.
    Anna und Terry waren oft zum Friedhof gegangen. In Ghencea lagen Omama und Opapa begraben, Annas Großeltern, aber sie waren an ihrem Grab nicht einmal vorbeigegangen. Sie waren zielstrebig ans Ende der Hauptallee geeilt, dort hatten im Zaun ein paar Latten gefehlt. Diese schamlose Öffnung hatte zu einem fast vollkommen ausgetrockneten Bach geführt, in dem sich die Kadaver von Hunden und Katzen sowie vertrocknete Blumenbuketts gesammelt hatten.Diesen Weg hatten sie jedes Mal zur Mittagszeit genommen, jedes Mal waren sie zu Fuß hin und zurück gegangen, sie hatten Geld für Strümpfe, Rouge und Zigaretten gebraucht. Wir hatten unsere Essensmarken verkauft, und nach dem Ende der Lehrveranstaltungen streunten wir durch die Gassen zwischen Universität und Drumul-Sării-Straße, von dort aus sah man bereits den Friedhofszaun. Hier, am Ende der Allee mit ihren sandigen Löchern, wuchsen hutzelige wilde Apfelbäume und ein Maulbeerbaum mit schwarzen Früchten, die auf unseren Handflächen und Lippen dunkle Flecken hinterließen. Wenn wir zwei Stunden später heimlich nach Hause geschlichen kamen, liefen wir schnell zur Wasserpumpe und rieben die Spuren unseres Vergehens mit Zitronensaft ab, erreichten aber nicht viel. Lange hielten die Maulbeeren nicht gegen den Hunger vor, unsere Hauptmahlzeit bestand aus wilden Äpfeln. Ich sehe diese grünen Früchte noch vor mir, nicht größer als Nüsse waren sie, wir bissen von ihnen ab und verzogen das Gesicht, die Zähne wurden stumpf davon. Sobald der Magensaft aufzustoßen begann und mir bis in die Speiseröhre stieg, stellte ich mir meinen Magen vor wie ein Reagenzglas in der Chemiestunde, in dem Chlorwasserstoffsäure brodelte. Terry holte ihr Germanistikheft heraus und schrieb besonders auffallende Namen von den Kreuzen ab, die später den Figuren ihres zukünftigen Romans gehören sollten.
    Seit sie beim Neuen Weg arbeiteten, waren sie nicht mehr so unzertrennlich wie früher. An manchen Tagen hatten sie sich nicht einmal zu Gesicht bekommen. Terry war der Briefabteilung zugeteilt worden, Anna der Außenpolitik. Ohne Frage eine Ironie des Schicksals, du weißt schon, ich undAußenpolitik. Es begeisterte mich nicht gerade, stieß mich vielmehr ab; ich hatte meine eigenen Verrücktheiten, Vietnam und Korea schienen mir uninteressant, mein Exotismus war anders geartet. Ich mochte zum Beispiel Ameisen und Bienen, schon immer waren mir ihre Bauten, vor allem die Bienenstöcke, wie metaphysische Staatsformen

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