Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
wie ich, das noch kein Ziel vor Augen hatte. Als wir beide Deutsch studierten – ich sehe sie noch mit ihrem roten, wilden Haar, den langen Beinen, eins unter sich gezogen, das andere träge in der Luft schaukelnd, eine Ballerinenhaltung –, damals waren wir offensichtlich noch nicht aus dem Reich der Anmut vertrieben worden. Und dann, an jenem Morgen beim Neuen Weg , es war drei Tage vor Weihnachten, hatte Anna heimlich die Redaktion verlassen, um Geschenke zu kaufen. Als sie zurückgekommen war, hatte sie triumphierend eine chinesische Puppe aus der Tasche gezogen, die sich glatt und weich anfühlte und eine Stupsnase und hellblaue Augen hatte, wie ein Gänseküken. Sie hatte sie für ihren Sohn Tiberiu gekauft, der fünf Jahre alt geworden war, Anna hatte seinen Sinn für die Magie des Weiblichen wecken wollen, und vor allem sollte er ein Spielzeug haben, das ihm im Bett Trost spendete; im Grunde genommen hatte Anna Tiberiu langsam an Frauen gewöhnen wollen. Terry hatte sich von dieser Puppe nicht im Geringsten beeindrucken lassen. Es gab viele Dinge, die Frauen generell liebten, die sie aber ablehnte: Blumen, mit Schleifen verschlossene Bonbonnieren, Grußkarten. Sie hasste alles, was das Beiwort »niedlich« hätte tragen können. Findest du es nicht peinlich, Tiberiu eine Puppe zu kaufen, hast du schon mal Jungen gesehen, die mit Puppen spielen! Anna versuche wohl wieder mal etwas zu unternehmen, um sich abzuheben, sie tat gerne ungewöhnliche Dinge, um zu schockieren, Terry hingegen führte sie sofort wieder auf den gemeinsamen Nenner zurück; ohne es zu wollen, gelang es ihr jedes Mal, ihren Elan zu schwächen und zu verflachen. Sobald Anna für ein paar Minuten hinausgegangen war, um einenMitarbeiter zur Tür zu begleiten, war Terry zum Schreibtisch getreten und hatte nach der Puppe gegriffen. Als Anna für Terrys Tat später eine Erklärung finden wollte, versuchte sie den Ablauf der einzelnen Momente noch einmal durchzugehen, die ihre Freundin zu dieser Entscheidung bewegt haben mochte. Erster Impuls: Neid, dass nicht sie diese Idee gehabt hatte. Zweiter Impuls: Gerechtigkeitssinn, Empörung, dass ein Junge eine Puppe geschenkt bekommt, die sich so viele Mädchen wünschen würden. Dritter Impuls: Freude daran, anderen Freude zu bereiten, großzügig zu sein, egal, ob es sich dabei um ihr Eigentum handelte oder das anderer. Vierter Impuls: Erregung beim Verführen von Männern in jeder Hinsicht. Fünfter Impuls: Sinn fürs Praktische – der Mann war schließlich der BOB-Sekretär.
Hier, diese Puppe ist für deine Tochter. Auf jeden Fall ist sie in Gerdas Armen besser aufgehoben als in Tiberius Bett. Anna wird nichts dagegen haben, glaub mir. Kloth wusste gar nicht, wie er ihr danken sollte. In den klobigen Händen dieses Seifenfabrikarbeiters erschien die Puppe wie eine russische Adlige, die von einem Muschik vergewaltigt worden war. Zurück im Büro hatte Anna den Parteisekretär mit ihrer Puppe spielen sehen. Sein eifriger Dank für das Geschenk, das sie Gerda gemacht hatte, hatte in Annas Ohren wie Hohn geklungen. Ich verstummte. Du merkst, in was für einer Situation ich steckte, ich konnte ihm nicht widersprechen, im Gegenteil, ich musste dieses teuflische Spiel mitspielen, ich musste ihm sagen, dass ich es gerne tat und dass ich gemerkt hatte, wie absurd ich mich benahm, und dass die Freude seiner Tochter mir mehr bedeute als alles andere. Terry stand inder Ecke, lachte mit den anderen Kollegen und genoss meine Demütigung.
Anna schweigt, als warte sie auf Bestätigung, der Mann schweigt, ganze Minuten vergehen, in denen keiner von beiden etwas sagt. Nur die Blicke, der grüne und der braune, halten sich in permanentem Gleichgewicht, ohne Grund, ohne Absicht, wie zwei Tauben auf einem Zweig. Fünf Minuten Pause, Unruhe, Warten, fünf Minuten der Uhr nach. Es ist eins, und um zehn ist er gekommen. Mit keiner Geste deutet er an, dass er gehen will, auch sie zeigt ihre Müdigkeit nicht. Du bleibst zum Essen bei mir. Sie steht auf und will sich strecken, ihr Rücken fühlt sich steif an, sie führt die Bewegung aber nur halb aus, dieser Mann ist ihr entweder zu nah oder zu fremd. Er bleibt auf dem Stuhl sitzen. Ich habe nichts Besonderes da, was ich dir anbieten könnte, aber eine Grießklößchensuppe und Fleisch mit Bratkartoffeln isst du doch mit mir, oder? Entschuldige, ich muss dich einen Augenblick hier sitzen lassen, während ich die Kartoffeln schäle. Nimm dir ein Buch, damit du dich nicht
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