Die Seele der Nacht
Flächen.
Rothâo sank auf die Ruhebank vor dem Kamin und schloss die Lider. Sein Gesicht wirkte nun eingefallen, um die Augen bildeten sich dunkle Ringe, seine Haut war eiskalt. Tahâma eilte zum Kamin, schob eine Hand voll Laub zwischen die sauber gestapelten Scheite und setzte es mit ihrem Kristallstab in Brand.
»Wo sind Granho und Thurugea?«, fragte Rothâo, ohne die Augen zu öffnen.
»Sie sind mit den anderen davongezogen«, antwortete Tahâma leise. »Das Volk der Blauschöpfe ist schon viele Wochen unterwegs.«
Rothâo da Senetas nickte.
»Lasst mich Euer Bein ansehen«, sagte Tahâma. »Ich bin keine Heilkundige, wie Ihr wisst, doch vielleicht wird das Kristallwasser Linderung bringen.«
Der Vater lag bewegungslos auf der Ruhebank. Mit zitternden Händen schob Tahâma den kühlen, silbrigen Stoff hoch, bis die Wade sichtbar wurde, in der sich die blutigen Abdrücke zweier Zähne abzeichneten. Käme die Wunde von einem anderen Wesen, hätte Tahâma sie mit Kristallwasser gesäubert, eine beruhigende Weise auf der Harfe gespielt und sich weiter keine Gedanken um die Heilung gemacht, doch die schwärzlichen Ränder um die roten Kerben, von denen sich nun ein Netzwerk feiner Linien ausbreitete, trieben ihr Tränen in die Augen. Sie konnte nichts für ihn tun.
Trotzdem eilte sie ein Stockwerk tiefer in die Bibliothek der Melodien, in deren Mitte ein kleiner Brunnen sprudelte. Tahâma vermied es, die leeren Regale anzusehen. Sie schöpfte einen Krug Wasser und eilte damit zurück in die Stube, betupfte die Wunde und verband sie, doch der Vater reagierte nicht. Schlief er oder dämmerte er schon dem Tod entgegen? Das Mädchen verbot sich solche Gedanken. Sie lief in die Küche hinunter, holte einen Krug mit starkem Kräuterwein und das frische Nussbrot, das sie sich gestern gebacken hatte. Sie packte auch noch einige süße Früchte und eine Schale Honig in ihren Korb, dann kehrte sie zurück an das Lager des Verletzten.
»Vater?«, fragte sie, und die Angst schwang in ihrer Stimme.
Rothâo öffnete die Augen, stemmte sich hoch und versuchte sich an einem Lächeln. »Rieche ich dein wundervolles Nussbrot? Wie lange musste ich es entbehren. Komm, setz dich zu mir. Spiele mir eine schöne Melodie.«
Das Mädchen zog eine schlanke weiße Flöte aus ihrer Tunika und setzte sie an die Lippen. Zarte Töne umwebten den Leidenden und glätteten sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht. Schweigend aß er Brot und Früchte und trank vom gewürzten Wein. Das Mahl schien ihn zu stärken und seinen Geist zu klären.
Tahâma ließ die Flöte sinken. »Habt Ihr die Kindliche Kaiserin gesehen?«, fragte sie.
Rothâo schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat keinen der zahlreichen Boten empfangen.«
Ihre Augenlider flatterten. »Andere Boten?«
»Ja, von überall aus Phantásien kamen sie, und alle erzählten das Gleiche. Sie sprachen voller Angst von dem unheimlichen Nichts, das ihre Länder zerstört. Leise und kaum merklich, doch unaufhaltsam.«
»Aber sie muss doch irgendetwas dazu gesagt haben?«, wandte Tahâma ein. »Sie kann doch nicht einfach zusehen, wie ihr Reich verschwindet!«
»Die Kindliche Kaiserin ist krank, sehr krank, und im ganzen Elfenbeinturm wurde hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, dass selbst die klügsten Ärzte keinen Rat mehr wüssten.«
»Sie wird doch nicht ...«, hauchte Tahâma, wagte aber nicht, den Satz zu beenden.
»Sterben?«, ergänzte Rothâo und seufzte. »Vielleicht, ja, davon haben sie gesprochen, doch eine Hoffnung gibt es noch. Der Heiler Cairon, der Schwarz-Zentaur, ist mit AURYN unterwegs, um einen Krieger namens Atreju zu suchen. Die Gebieterin der Wünsche vertraut ihm, dass er Phantásien retten wird, also sollten wir es auch tun.« Erschöpft schloss Rothâo für eine Weile die Augen. Zitternd tastete seine Hand nach dem Becher mit dem Kräuterwein, doch er war schon zu schwach, um ihn an die Lippen zu heben. Tahâma stützte ihn und gab ihm zu trinken.
»Erzähle mir, was hier geschehen ist«, forderte er sie auf.
Tahâma rückte ein Stück näher und nahm seine eisigen Hände in die ihren. »Als Ihr auf dem Rücken des Hippogreifs abgereist seid, waren alle guter Hoffnung. Obwohl die Beobachter, die Granho in alle Teile unseres Landes geschickt hatte, berichteten, dass das Nichts sich ausbreitet und immer näher kommt, gingen die Männer und Frauen mit leichtem Sinn ihrem Tagewerk nach. Sie sangen, sie brachten die Saiten zum Klingen und pflegten weiterhin die
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