Der Puppendoktor
KAPITEL 1
Der heiße Wind schob den dichten Regen in Wirbeln vor sich her. Die Menschen rannten in alle Richtungen, die leichte Sommerkleidung klebte ihnen am Körper. Der Himmel hatte sich urplötzlich verfinstert - tiefe, schwarze Wolken, fernes Donnerdröhnen. Kinder in phosphoreszierenden Plastiksandalen hüpften in das ehrwürdige Becken in der Mitte des Platzes. Der vom Gewitter überraschte Eisverkäufer räumte eilig sein Zubehör zusammen.
Es regnet, hat mit einem Schlag angefangen, das ist so angenehm wie eine kühle Hand auf dem Gesicht. Ich warte auf den Bus. Beide Füße fest auf dem Boden, verlagere ich mein Gewicht mal nach rechts, mal nach links; sie gehören mir, sie gehorchen. Meine Finger, fest um den Griff der Plastiktüte geschlossen, meine Finger, getreue Soldaten, lasst die Tüte lässig schwingen, und ihr, meine Lippen mit der fügsamen Doppelzüngigkeit, trällert munter das Marschlied der Fremdenlegion, während ihr, meine Raubtieraugen, auf den Idioten in Uniform geheftet bleibt, der mitten im Stau steht, gleichgültig gegen den Regen.
Der Polizeibeamte, Marcel Blanc, war müde. Erschöpft. Er sah die Autos kreisen wie ein endloses Karussell, sah kreischende Scharen von Fußgängern vorüberziehen, und immer wieder stieß er gedehnte Seufzer aus. Er hatte großen Durst, ihm war heiß, seine Füße brannten wie Feuer, er musste pinkeln. Er hatte Madeleine gesagt, dass er abends gegen acht Uhr nach Hause käme. Sie würde ihn schimpfend erwarten, die Kinder hätten sicher schon ihre Ohrfeigen eingesteckt, der Fernseher würde plärren … Noch drei Monate bis zur Scheidung, seufzte er im Stillen und strich über seinen Schnauzbart, der so rot war wie sein kurz geschnittenes Kraushaar.
Triefnass vom lauwarmen Sommerregen träumte der Polizeibeamte Marcel Blanc und nahm dabei doch unbewusst das Kommen und Gehen der Leute wahr - die kleine Buchhändlerin mit dem allzu schrillen Lachen, die gerade zwei junge gepiercte Deutsche in löchrigen Jeans bediente, der Besitzer des benachbarten Kinos im Gespräch mit der Geschäftsführerin des Dessous-Geschäfts - er träumte, dass er mit der hübschen Brünetten aus dem »Rois du Charolais« auf die Bahamas floh und sich auf den einsamen, sauberen Stranden mit ihr im lauwarmen Sand wälzte.
Endlich traf der Bus ein, blieb mitten in einer Pfütze stehen. Er spuckte seine Fahrgäste aus, die, mit Paketen beladen, davoneilten. Eine junge Frau mit üppigen braunen Locken, auf der Stirn eine blassblaue Tätowierung, stieg nun ihrerseits aus, an der Hand einen fünf- oder sechsjährigen Jungen mit Lockenkopf und schelmischem Lächeln. Sie trug einen schwarzen Rock und einen schwarzen Pullunder, dazu einen schweren, mit Nägeln besetzten Gürtel, der ihre Taille und ihre festen Brüste zur Geltung brachte.
Die schwarzen Augen der jungen Frau trafen zufällig auf die grauen von Marcel, bevor sie zu dem Jungen hinab sah. Marcels Blick folgte ihr unwillkürlich. Irgendetwas an ihren markanten und stolzen Zügen, an ihrem geschmeidigen Gang zog ihn an. Sein Blick streifte den kleinen Mann, der seine Plastiktüte hin und her schwenkte, ohne auf ihm zu verweilen. Die Frau faszinierte ihn allzu sehr. Er sah sie jeden Tag vorübergehen. Die blassblaue Tätowierung auf der Stirn ließ an Nordafrika denken, an den Wüstenwind … »Ja, aber die Mädchen der Wüste sind nichts für die kleinen Weißen«, würde Jean-Mi, der Kellner des »Claridge«, sagen.
Gezeter riss ihn aus seinen Tagträumen. Eine Frau im ChanelKostüm beschimpfte einen jungen Mann, der sie mit der Tür seines Kombis zu Fall gebracht hatte. Marcel sah sich gezwungen einzugreifen. Die Frau schüttelte ihren eindrucksvollen grauen Haarknoten, murmelte etwas von diesen »Jammerlappen von Polizisten«, entfernte sich und zog dabei mit der Spitze ihres Designerschirms eine Schramme in die Karosserie des Kombis.
Marcel seufzte. Noch ein Jahr, und er konnte sich für die Prüfung zum Lieutenant anmelden. Bis dahin würde er mangels Diplomen (»Diplome sind für die Nichtstuer«, pflegte sein Vater zwischen zwei Litern Rotwein zu lallen) täglich acht Stunden über die öffentliche Ordnung wachen, da in der Hochsaison nicht ausreichend Personal dafür verfügbar war.
Der kleine Mann zog etwas aus seiner Plastiktüte und hob es flüchtig an den Mund. Marcel sah auf die Uhr und sagte sich, dass er bald vor Hunger sterben würde.
Der kleine Mann beobachtete Marcel, der ihn nicht wahrnahm. Er lächelte
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