Frühling der Barbaren
I
«Nein», sagte Preising, «du stellst die falschen Fragen», und um seinem Einwand Nachdruck zu verleihen, blieb er mitten auf dem Kiesweg stehen. Eine Angewohnheit, die ich nicht ausstehen konnte, denn dergestalt glichen unsere Spaziergänge den kurzatmigen Wanderungen alter, übergewichtiger Bassets. Und dennoch spazierte ich täglich mit Preising, denn an diesem Ort war er mir, trotz seiner zahlreichen ärgerlichen Eigenheiten, noch immer der liebste Gefährte. «Nein», wiederholte er und setzte sich endlich wieder in Bewegung, «du stellst die falschen Fragen.»
Dafür, dass Preising so viel redete, nahm er die Bedeutung seiner Worte erstaunlich ernst, und er wusste immer genau, was er gefragt werden wollte, damit der Strom seiner Worte seinen vorgedachten Weg gehen konnte. Mir, der ich hier gewissermaßen ein Gefangener war, blieb nicht viel anderes übrig, als ihm auf diesen Pfaden zu folgen.
«Pass auf», sagte er, «ich werde es dir beweisen, und zu diesem Behufe werde ich dir eine Geschichte erzählen.» Das war auch so eine von seinen Angewohnheiten, Worte zu verwenden, von denen er sicher sein konnte, dass er der Einzige war, der sie noch im Repertoire hatte. Allerdings war das eine Marotte, die, so fürchte ich, im Lauf der letzten Wochen auf mich abgefärbt hatte. Manchmal gab es guten Grund, daran zu zweifeln, dass wir uns guttaten, Preising und ich.
«Eine Geschichte», versprach er mir, «aus der sich etwas lernen lässt. Eine Geschichte voller unglaublicher Wendungen, abenteuerlicher Gefahren und exotischer Versuchungen.»
Wer jetzt eine schlüpfrige Geschichte erwartet, kann falscher gar nicht liegen. Preising sprach nie über sein Geschlechtsleben. Das brauchte ich nicht zu fürchten, dazu kannte ich ihn gut genug. Ob er überhaupt eines hatte, darüber konnte ich nur Vermutungen anstellen. Es war schwer, sich das vorzustellen. Aber das konnte täuschen. Schließlich wundere ich mich vor dem Spiegel stehend manchmal selbst, dass einer wie ich, in dem so wenig Leben steckt, ein solches zustande gebracht hatte.
Preising unterbrach, bevor er mit seiner Geschichte beginnen konnte, abermals unseren Gang, als werfe er einen Blick in die Vergangenheit, die er am Horizont – der in unserem Fall ganz nahe lag und von der Krone der hohen gelben Mauer gebildet wurde – auszumachen schien. Dazu kniff er die Augen zusammen, zog die Nase hoch und spitzte die schmalen Lippen. «Vielleicht», begann er endlich seine Geschichte, «wäre das alles nie geschehen, hätte mich Prodanovic nicht in den Urlaub geschickt.»
Prodanovic war, wiewohl für Preisings Einlieferung verantwortlich, nicht etwa sein Hausarzt. Prodanovic war jener ehemals junge und noch immer brillante Angestellte Preisings, der durch seine Erfindung der Wolfram-CBC-Schaltung, eines elektronischen Bauteils, ohne das keine Mobilfunkantenne dieser Welt ihren Dienst verrichten konnte, die von Preising geerbte Kommanditgesellschaft für Televisionsempfang und Dachantennen vor dem drohenden Konkurs gerettet und in ungeahnte Sphären der Weltmarktführerschaft für CBC-Schaltungen geführt hatte.
Preisings Vater, der sich mit dem Sterben gerade so viel Zeit gelassen hatte, dass Preising sein vor anderthalb Jahren an einer privaten Pariser Gesangsschule unterbrochenes Betriebswirtschaftsstudium abschließen konnte, vererbte seinem Sohn seine Fernsehantennenfabrik mit fünfunddreißig Angestellten zu einer Zeit, da der Kabelanschluss schon längst Einzug gehalten hatte. Die Firma, die aus der großväterlichen Drossel & Potentiometer Manufaktur hervorgegangen war, in der sich Preisings Vorfahren die Finger mit dünnen Kupferdrähten wund gewickelt hatten, machte damals beinahe ihren gesamten Umsatz mit der Herstellung jener meterlangen, aber, da fast ohne Verästelungen, recht preisgünstigen Antennen, die sich Hobbyfunker – leider auch eine aussterbende Gattung – aufs Dach zu pflanzen pflegten.
Preising kam also, ohne eigenes Verschulden, zu einer desolaten Firma, die ein paar tatkräftige Entscheidungen nötig gehabt hätte, und deswegen kann es als gesichert gelten, dass das Unternehmen heute nicht mehr existieren würde, hätte nicht jener junge Messtechniker Prodanovic die Wolfram-CBC-Schaltung entwickelt und die Zügel in die Hand genommen. Prodanovic war demnach nicht nur dafür verantwortlich, dass Preising mittlerweile vermögender Besitzer, sondern auch Vorstandsvorsitzender einer Gesellschaft mit tausendfünfhundert Angestellten
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