Die Seele des Ozeans (German Edition)
Prolog
~ Nordirland, August 2052 ~
K jell fand in dieser Nacht keine Ruhe.
Mit zunehmender Ungeduld wälzte er sich hin und her, versuchte es mit Lesen, gab nach zwei Seiten auf, suchte sein Heil in Atemübungen und presste sich schlussendlich das Kopfkissen auf das Gesicht, weil er sich daran erinnerte, dass das Inhalieren des eigenen Atems müde machte. Nichts von all dem brachte das Ersehnte.
Was war los mit ihm? Das Knarzen des alten Hauses und das ferne Rauschen der Brandung hatten ihn immer wohltuend in das Reich der Träume geschickt, doch diesmal erschien ihm jedes Geräusch ohrenbetäubend. Die Welt verschwor sich gegen ihn. Selbst das Fließen seines Blutes und das Trippeln der Mäuse auf dem Dachboden brachten ihn um den Verstand. Sein Herz schlug wie eine dröhnende Pauke, der Wind glich einem außer Rand und Band geratenen Chor, der aus Leibeskräften heulte.
Als die Wut ihn packte und jede Hoffnung auf Ruhe scheitern ließ, zog er seinen Morgenmantel an, schlich nach unten und verließ das Haus. Ein nächtlicher Spaziergang am Strand würde helfen, ganz sicher. Salzige Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Kalt und wild, eben die Luft Nordirlands, voll von der Gischt des Meeres und der Frische des Grases.
Der Himmel war klar, das Meer ruhig. Warum hatte er im Bett den Wind so laut gehört? Es ging kaum mehr als eine Brise, die unter dem Dach spielte. Einbildung, nichts weiter. Vermutlich eine Täuschung seines übermüdeten Geistes.
Auf der morschen Hausbank, umringt von flackernden Kerzen und bunten Windlichtern, sah er seine Mutter sitzen.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte.
„Kannst du auch nicht schlafen?“
„Nicht wirklich.“
Eine schmerzhafte Form von Glück krampfte sein Herz zusammen. Seine Mutter mit ihrem langen weißen Haar, die Bank, die Kerzen und das uralte Haus, das bereits Dutzende Generationen erlebt hatte: der Inbegriff von Heimat und von Nachhausekommen.
Aber für wie lange noch?
Kjell setzte sich neben Fae und musterte sie. Unfassbar, dass seine Mutter inzwischen auf die Achtzig zuging. Ihr Haar reflektierte das Mondlicht und floss über die mageren Schultern wie Spinnenseide. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit ihr durch die Welt gereist war, zusammen mit ihrem Bruder und seinem hawaiianischen Freund. Mit einem Segelschiff waren sie von Insel zu Insel, von Küste zu Küste gezogen. Das Meer war seine Schule gewesen, fremde Kulturen seine Lehrer. Zumindest bis zu seinem fünfzehnten Geburtstag. Damals, als sie das Segelschiff verkauft hatten und sesshaft geworden waren, war er überzeugt gewesen, nie wieder ein Gefühl von Zuhause entwickeln zu können. Jetzt hingen überall im Haus Fotos aus dieser wunderbaren Zeit, und er konnte sie ansehen, ohne sich verloren zu fühlen. All die Zeugnisse unzähliger Erinnerungen, deren Gerüche und Geschmäcker noch auf seiner Zunge lagen. Nur ein Detail der Fotos verriet, das es nie ungetrübtes Glück gegeben hatte: Auf keinem Abbild lächelte Fae. Immer blickte sie mit dieser für sie typischen Wehmut an dem Fotografen vorbei, als wäre nur ihr Körper anwesend, aber nicht ihr Geist.
„Darf ich dich was fragen, Mum?“
„Sicher.“
„Fühlst du dich wohl hier? So allein und abgelegen?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Aber natürlich. Ich könnte mich nirgendwo wohler fühlen. Sieh dich doch um.“
Kjell antwortete mit einem verständnisvollen Lächeln. Ja, dieser Ort war etwas ganz Besonderes. Das Wetter mochte rau sein, das Meer kalt und der Strand mit all seinem verrottenden Tang und dem Treibgut weit entfernt von makelloser Bilderbuchidylle, aber es lag etwas in der Luft. Eine Form von unverfälschter Freiheit. Der Blick ging weit über das Meer, das Licht am Abend und am Morgen war schwer von Melancholie.
Kjell liebte dieses Haus. Es war sein Refugium, sein Ruhepol. Der Ort, an dem sich seine Seele ausruhen konnte. Kam er hierher, verlangsamte sich alles auf wundersame Weise und rückte wieder an den richtigen Platz.
Jeden Tag schwamm er im Meer und wusste in jenen Augenblicken, in denen er durch das Wasser tauchte, dass er ganz er selbst war.
Absolut und vollkommen er selbst. Der Gedanke, all das übermorgen wieder hinter sich zu lassen, schmerzte mehr denn je.
„Ich möchte dir etwas schenken“, durchbrach Fae die Stille. „Ich habe lange auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Jetzt ist er gekommen.“
Sie griff neben sich, hob ein Buch auf und reichte es ihm.
Es war alt und abgegriffen.
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