Die Seele des Ozeans (German Edition)
mich“, flüsterte Fae. „Nach so langer Zeit hat er mich endlich gefunden. Heute ist meine Nacht. Nein, es ist unsere Nacht.“
„Mum?“
„Ja?“, gab sie zurück.
„Geht es dir gut?“
„Besser als je zuvor. Geh rein und lies. Du sollst endlich alles erfahren.“
Alles erfahren? Indem er einen ihrer Fantasyromane las?
„Von wem hast du gerade geredet? Wer ruft dich?“
„Lies das Buch. Wir haben nicht ewig Zeit.“
„Wie du meinst.“
Kjell erhob sich und sah noch einmal auf das Meer hinaus. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, also warum die Nacht nicht mit Lesen verbringen? Mondschein glänzte hypnotisierend auf dem tanzenden Muster der Wellen. Bald würde er wieder seiner Aufgabe folgen und für das kämpfen, was er über alles liebte. Seltsam, dass er dem Ozean nirgendwo so nahe war wie hier. Nicht einmal in der Weite des Pazifiks, nicht in den kalten Gewässern der Antarktis und nicht über dem schillernden Labyrinth des Great Barrier Reefs.
„Gute Nacht, Mum.“
Sie strahlte ihn glücklich an. „Gute Nacht, Kjell.“
Er schlurfte zurück in das Dachzimmer, schaltete die Nachttischlampe ein und streckte sich auf dem Bett aus, ohne seinen Morgenmantel auszuziehen. Er liebte dieses Ding, seit Fae es ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es war blau und schwarz gestreift, wies zahlreiche Löcher auf und würde erst zu Grabe getragen werden, wenn es ihm vom Körper bröckelte.
„Er passt so gut zu deinen schwarzen Haaren und den blauen Augen“, betonte seine Mutter immer wieder. „Als wäre er nur für dich gemacht.“
Kjell strich über den fadenscheinigen Ärmel und dachte daran, dass er äußerlich nicht nennenswert gealtert war, seit er dieses Kleidungsstück vor zweiundzwanzig Jahren geschenkt bekommen hatte. Dieser Mantel hingegen schon. Vielleicht sog er das Alter an seiner statt in sich auf, wie das Bildnis des Dorian Gray. Ein Unsterblichkeits-Morgenmantel.
Nachdem Kjell ein paar Mal am Buch geschnuppert hatte – es roch alt, modrig und nach irgendeinem Frauenparfüm – schlug er es auf und blätterte flüchtig hindurch. Kleine Zeichnungen leiteten die Kapitel ein, und als er das Bild einer wunderschönen, weißen Flosse sah, wurde ihm eigenartig zumute. Eine Unruhe rumorte in ihm, gefolgt von dem Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Oder nach etwas suchen zu müssen.
Wann hatte seine Mutter das Buch veröffentlicht?
Er suchte nach der entsprechenden Information, fand sie ganz am Anfang und stutzte. Vor genau zweiundvierzig Jahren im Monat seiner Geburt.
Noch einmal steckte er die Nase zwischen die Seiten. Es war, als atmete er Vergangenheit ein. Eine verborgene Etappe im Leben seiner Mutter, ihre Gefühle und Träume. Die Zeit verrann so schnell, wenn man glücklich war. Sie floss wie der Wechsel der Gezeiten, doch im Gegensatz zu Ebbe und Flut kehrte das menschliche Leben nicht ewig wieder.
Befallen von einer seltsamen Unruhe, begann Kjell zu lesen.
Kapitel I
Das Leuchten
~ Fiona, Juli 1978 ~
A ls Fiona das Leuchten im Meer sah, wusste sie plötzlich, warum sie mitten in der Nacht hierhergekommen war. Das Licht war gespenstisch und wunderschön, bildete mal eine Wolke, mal ein vielarmiges Wesen, das anmutig durch das dunkle Wasser glitt. Genau auf sie zu.
Komm, komm, komm …, schien es sie unhörbar zu rufen.
Fiona spürte die Kälte des Windes, der an ihrem Nachthemd zerrte, nicht mehr. Sie schlang beide Arme um ihren prall gewölbten Bauch, tat einen Schritt in das Meer hinein und spürte, dass es richtig war. Hier zu sein. Jetzt. Und in das Licht zu gehen.
Das Kind in ihrem Leib bewegte sich. Sie spürte seine zarten Tritte intensiver als je zuvor, auch seinen sich windenden Körper und selbst seinen Herzschlag, der sich in vollkommener Harmonie zu dem Pulsieren in ihrem Brustkorb befand. Sie waren eins und würden es immer sein.
Hungrig leckte der Meeresschaum an ihren Füßen.
Komm, komm, komm …
Die Wellen umspülten Fionas Oberschenkel, dann ihren Bauch. Silberreflexe tanzten auf den Wellen. Das Licht des vollen Mondes, der über dem Horizont leuchtete, ergoss sich wie flüssiges Metall auf das Meer. Ihr Kind bewegte sich noch heftiger, als wolle es hier und jetzt hinaus und in das Wasser tauchen. Sie dachte daran, wie ihr Sohn gezeugt worden war, vor neun Monaten in einer ganz ähnlichen Nacht an diesem Strand, als Angus betrunken und sie hoffnungslos romantisch gewesen war. Fiona wusste, dass es in jener Nacht passiert war.
In
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