Die Seele des Ozeans (German Edition)
der Harpune befestigten Seiles wurde der Finnwal zum Schiff geschleppt und an Bord gezogen. Die Männer arbeiteten schnell, gefühllos und präzise. Breac tötete, aber er war nicht mehr dabei, wenn sein Opfer zerlegt wurde. Mit dem Alter kamen die sentimentalen Gefühle und machten den welkenden Körper noch schwächer. Die Männer akzeptierten seinen Rückzug, weil er der Beste war. Der Mann, der einen Wal mit einem Schuss erledigte. Der Magier, der im Meer las wie kein anderer, der wusste, wo und wann sein Opfer auftauchen würde, wie es dachte, wie es fühlte. Der Mann, der die Sprache der See verstand und niemals einen Fehler machte.
Dieses kurzlebige Ungeziefer hatte ja keine Ahnung.
Rote Ströme flossen schäumend über die Planken. Klingen zerteilten den Körper, wabbelnde Speckstücke rutschten über das Deck. Möwen erbeuteten bluttriefende Brocken, die sie entweder stahlen oder im Flug auffingen, wenn man sie ihnen zuwarf.
Unwissende Menschen. Ahnungslose Dummköpfe. Nichts wussten sie vom Sterben und nichts vom Tod. Was würden sie wohl sagen, wenn er ihnen verriet, dass er aussah wie ein Siebzigjähriger, aber schon auf Erden gewandert war, als ihresgleichen noch Fell und Leder getragen und bluttriefende Äxte geschwungen hatte?
Breac wandte sich vom Anblick des dampfenden Schlachtplatzes ab und zog sich in seine Koje zurück. Es ging doch nichts über eine weiche Matratze und eine saubere Decke. Welch eine Annehmlichkeit verglichen mit damals. Breac grinste, als Erinnerungen in ihm aufstiegen. Diese Fahrt nach Indien im Jahr 1765 …
An Bord war die Ruhr ausgebrochen.
Vier Seemänner hatten übereinander gestapelt in ihren Hängematten vor sich hin gelitten. Dreiundzwanzig kranke Seelen im Gesamten, die ihre eigenen Eingeweide ausgekotzt und ausgeschissen hatten. Ein unbeschreiblicher Gestank. Die Ausdünstungen und Ausscheidungen Dutzender todkranker Männer im Bauch eines Dreimasters, der in der drückenden Hitze des Indischen Ozeans auf Wind gewartet hatte.
Breac zog an seiner Zigarette, einen Arm unter den Kopf gelegt, und sandte seinen stummen Ruf ins Meer hinaus. Nach kurzer Stille wurde er beantwortet.
Wie schön, sein treuer Freund leistete ihm auch an diesem Abend Gesellschaft. Tief unter dem Schiff drehte das Ungeheuer seine Kreise, wartete genauso wie er auf den Moment, dem sie beide seit Ewigkeiten entgegenfieberten. Wie gut es tat, die Kraft seines Freundes wieder zu spüren. In den Jahren, in denen das Monster geschlafen hatte, war Breac immer mutloser und hoffnungsloser geworden. Aber jetzt gehorchte der Seelenfresser wieder seinem Willen. Er war wieder Herr über Leben und Tod. Sie jagten gemeinsam nach dem weißen Narwal und ließen ihre Instinkte zusammenarbeiten. Diesmal, das spürte er, würden sie die Fährte finden.
Breac starrte auf seine faltige Hand. Er welkte dahin, daran konnte selbst sein mächtiger Freund nichts ändern. Er trocknete aus, verdorrte und verfiel. Wenn seine Suche nicht bald von Erfolg gekrönt war, würde er das schlimmste aller Enden finden.
Jahrhunderte hatte er durchwandert und jede Epoche ausgefüllt mit Verderben, weil er seit seiner Geburt dazu erzogen worden war und weil die Götter es zugelassen hatten.
Kämpfe, sei stärker, sei schneller. Töte.
Zeige keine Gnade. Nur dann gehörst du zu uns.
War es ein Wunder, dass der Seelenfresser ausgerechnet seinem Willen gehorchte? Sie waren vereint in ihrer Bestimmung, nichts als Schmerz zu bringen. Breac spürte den Würgegriff der Fäulnis immer stärker. Der Verfall lag in der Schwäche seiner Glieder, im Nachlassen seiner Sehkraft und in den Schmerzen, die ihn beständig plagten. Angst beherrschte seine Gedanken und lähmte seine Muskeln. Er wollte nicht sterben. Für ihn würde es keine Erlösung geben.
Er wusste, welch scheußliche Kreaturen auf der anderen Seite lauerten und nach ihm geiferten. Oft genug hatte das Grauen seine Klauen nach ihm ausgestreckt, wenn er gestorben und wieder zum Leben erweckt worden war. Den Tod auszutricksen, war seine einzige Hoffnung auf Rettung.
Er musste den weißen Narwal finden. Koste es, was es wolle. Und diesmal würde er sich nicht mit einem Brocken Fleisch und einem Schluck Blut zufriedengeben.
Inzwischen war es wieder Nacht geworden. Über ihm im Aufenthaltsraum lärmten und grölten die Seeleute. Es roch nach frischem Walfleisch, Bier und Ölsardinen. Breac drehte es den Magen um. Den Hunger, den er empfand, würde keine Nahrung dieser Welt stillen
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