Die Seele des Ozeans (German Edition)
vollkommen gewesen. Nie war er zu einem Teil des Meeres geworden, stets trennte ihn Neopren oder Metall von dem, was für ihn Heimat bedeutete. Wirklich zuhause fühlte er sich nur hier, in diesem alten Haus auf den Klippen, und im Wasser. Egal, wo auf der Welt er sich befand, egal, wie fremd ihm das Land und die Kultur waren, tauchte er in das blaue Reich ab, war er zuhause. Dennoch blieb nach jeder Rückkehr ans Land ein schaler Nachgeschmack zurück. Die Traurigkeit darüber, unter dem Spiegel der Oberfläche zu einem Fremdkörper zu werden.
Und die Unvollkommenheit, die er an Land empfand.
Beim Atmen von Luft, stehend auf seinen zwei Beinen.
Als Mensch würde er nie ganz zum Wasser gehören, ganz gleich, wie groß seine Liebe zur See war. Weder konnte er wie Kjell mit den Walen reden, noch vermochte er am eigenen Leib zu erfahren, wie es war, aus eigener Kraft in die Tiefsee zu tauchen.
Kjell seufzte und schnupperte nach dem süßen Duft des Karamells, das durch den Türspalt drang. Unten war es still geworden, anscheinend war Fae zu Bett gegangen.
Er schälte sich aus der Decke, zog seinen Mantel über und huschte in die Küche hinunter. Nur ein winziges Stück von dem Zeug, nur eine kleine Ecke.
Tatsächlich standen zwei gefüllte Bleche auf dem Tisch, duftend und goldbraun glänzend. Das Aroma ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Kjell nahm ein Messer aus der Schublade, trennte Stück für Stück der weichen, braunen Masse ab und steckte sich eins nach dem anderen in den Mund.
Köstlich! Es gab nichts Besseres. Ehe er es sich versah, war das Blech halb leer. Schuldbewusst legte er das Messer beiseite und hielt sich den Bauch. Seine Eingeweide gluckerten und rumorten. Das fehlte ihm gerade noch, die letzten Tage in seiner Heimat mit den Nachwirkungen hemmungslosen Karamellgenusses zu verbringen.
Zurück in seinem Zimmer zog Kjell den Mantel aus und schob die Vorhänge beiseite. Bald würde die erste Dämmerung beginnen. Bei klarem Himmel ein Farbenspiel, das nirgendwo auf der Welt so schön war wie hier.
Wenn es soweit war, würde er sich mit dem Buch auf die Klippen setzen und dem Schauspiel zusehen, bis es hell genug war, um zu lesen. Kjell schlüpfte unter die Bettdecke, gähnte ausgiebig, nahm Faes Werk wieder zur Hand und schlug die Seite um. Zwei Orcas schwammen über die vergilbte Seite, gezeichnet vor langer Zeit.
Kapitel IV – Der Walfänger.
Aha, jetzt würde ihn das Buch also mit Breac bekanntmachen.
Kapitel IV
Der Walfänger
~ Breac, September 2009 ~
W ährend die tiefblauen Wellen des arktischen Meeres gegen den Rumpf des Fangschiffes plätscherten, zählte Breac die Minuten, die vergingen.
„Eins, zwei, drei … sechs, sieben, acht“.
Als die Neun auf Breacs Zunge lag, durchbrach der Rücken des Finnwals die Wasseroberfläche. Der erste Eindruck aus der Ferne hatte ihn nicht getäuscht. Oh ja, es hatte sich gelohnt, die Fangsaison eigenmächtig zu verlängern und dem wilden Meer des Herbstes zu trotzen, auch wenn sein Drang, auf See zu bleiben, nur wenig mit dem Erringen möglichst fetter Beute und einem vollen Laderaum zu tun hatte.
Ein ausgewachsener Bulle näherte sich ihnen, gute zwanzig Meter lang. Breac gab ihm Gelegenheit, seine Neugier zu befriedigen, studierte das Verhalten seines Opfers, verfolgte seinen Bewegungsrhythmus und bewunderte die funkelnden Lichtspiele auf dem nassen, dunkelgrauen Rücken, wenn der Riese die Wellen durchbrach. Kurz vor dem Abtauchen sah der Wal ihn an. In dem kleinen, schwarzen Auge lag keine Erkenntnis. Nur die übliche Ahnungslosigkeit eines sanftmütigen Giganten.
Bald … bald
Anmutig tauchte das Tier in die Tiefe hinab. Tropfenschleier fielen von seiner Fluke, als er im Blau verschwand. Breac zog die Unterlippe zwischen seine Zähne. Er gab dem Steuermann einen Wink und konzentrierte sich auf die Zeichen, die das Meer ihm verriet. Leben und Tod lagen in seinen Händen. Für diese Momente lebte er. Für diese Phase, in der nichts anderes zählte als seine Instinkte und sein Gespür. Der Rausch eines geborenen Jägers. Alles war festgefroren im Lauf der Dinge. Seine schmerzenden Gelenke spürte er nicht mehr, seine Augen waren scharf wie damals. Er wurde wieder jung und stark. Träge bewegte sich der Bug des Schiffes zur Seite, folgte auf Breacs Zeichen hin dem unsichtbaren Pfad des Wales.
„Sechs …“ Er sah auf die Uhr, bis der Sekundenzeiger einmal seine Runde gemacht hatte. „Sieben …“, eine zweite Runde, „…
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