Die Seele des Ozeans
einem felsigen Hang an, in dessen Spalten und Ritzen zahllose Wesen Unterschlupf gesucht hatten. Zwischen Kaltwasserkorallen und Wachsrosen tummelten sich Fische, Krebse und Garnelen. Manchmal hielt er inne, um das geschäftige Treiben zu filmen, und als ein Krake neugierig aus seiner Höhle kroch, um ihn in Augenschein zu nehmen, erlaubte sich Kjell eine längere Pause. Selten erregte seine Anwesenheit keine Massenansammlung. Dafür gab es zu viele neugierige Wesen im Meer. Er musste nur eine Weile an einem Ort verharren, um eines nach dem anderen anzulocken. Auch diesmal währte es nicht lange, bis über seinem Kopf ein Heringsschwarm kreiste. Kabeljaue und Makrelen kamen nach einer Weile hinzu, dann ein großer Heringskönig, der ihn zutraulich umkreiste und sich sogar berühren ließ. Aus hundert Fischen wurden tausend, aus tausend ein ganzer Sturm. Unzählige silbrige Leiber tanzten um ihn herum, bis die Meeresräuber kamen und den Schwarm auseinandertrieben.
Gleißend funkelten die Luftblasen im Gefieder der Seevögel, die sich ins Wasser stürzten und die oberflächennahen Fische fingen. Ein paar Haie und Seehunde trennten einen Teil des riesigen Schwarms ab, umzingelten ihn und stießen immer wieder vor, bis sich die Fische zu einem panisch rotierenden Ball zusammenfanden und damit ihr Schicksal besiegelten.
Die Vögel griffen von oben an, Haie und Seehunde von unten und von den Seiten. Ein Fisch nach dem anderen verschwand in hungrigen Mäulern und Schnäbeln. Bald waren nur noch silberne Schuppen übrig, die wie Schneeflocken in die Tiefe rieselten.
Kjell schwamm weiter, schwenkte nach einer Weile gen Osten und fand die Stelle unmittelbar vor einer Sandbank, an der der Grund aus Kieseln bestand. Trotz der großen Fischjagd, die ihnen nicht entgangen war, hatten die Schwertwale ihre Körperpflege nicht unterbrochen. Behäbig rieben sie ihre schwarzweißen Körper an dem steinigen Grund, drehten sich mal auf die Seite, mal auf den Rücken, damit jede Stelle von den Kieseln abgerieben wurde.
Kjell blieb neben einem großen, runden Felsen und döste vor sich hin. War es wirklich möglich, den Menschen das Meer durch seine Augen zu zeigen? Dazu gehörte viel mehr als irgendwelche Bilder, die die Landbewohner sehen würden, während sie auf Sofas oder in Sesseln hockten. Wie sollten sie je begreifen, was das Meer wirklich ausmachte? Sie hörten nicht, was er hörte. Sie fühlten nicht, was er fühlte. All die unzähligen Laute und Gefühle, die das Wasser in sich trug. All die Erinnerungen aus unendlich langer Zeit, all die unhörbaren und unsichtbaren Botschaften, die sich ihm erst nach jahrelangen Wanderungen durch die Ozeane eröffnet hatten und nun von überall her auf ihn eindrangen.
Vor allem würden die Menschen eines nicht nachvollziehen können: Die uralte Macht des Meeres, die in seinem Herzschlag pulsierte und in seinem Blut brannte.
Du löst etwas aus, hörte er Alexanders Stimme sagen. Du berührst unsere Seelen. Zusammen könnten wir die Menschheit verändern.
War das wirklich so? Konnte er ein Vermittler zwischen den Menschen und seiner Heimat werden?
Niemals, meldete sich wieder die hämische Stimme des anderen zu Wort. Sie werden einfach weiter zerstören, vergiften und töten. Egal was du ihnen zeigst. Erst wirst du sterben, dann das Meer. Am Ende bleibt nichts übrig.
Kjell setzte sich in Bewegung. Er schwamm durch die Orcaschule hindurch, ohne dass eines der Tiere ihn beachtete. Vor der Südseite der Sandbank wuchs ein Tangwald, in dem zwei Jungtiere spielten. Übermütig bewegten sie sich durch die Stängel der Pflanzen, die sich in der Strömung wiegten, genossen das Kitzeln der Blätter an ihren Körpern und wetteiferten darum, wer am elegantesten und schnellsten im Zickzack durch den Tangwald huschen konnte. Kjell ließ sich auf den sandigen Grund sinken, drehte sich auf den Rücken und richtete die Kamera auf die Oberfläche. Sonnenschein fiel in schrägen Säulen durch den Tang, alles flirrte und tanzte und bewegte sich, wiegte sich hin und her, hin und her … Blätter streiften seine Haut, dunkle Schatten glitten über ihn hinweg … die Strömung hob ihn auf und nieder, schläferte ihn ein … hin und her, auf und nieder … immer langsamer, immer träger.
Die Gedanken entglitten ihm, die Kamera sank zu Boden.
Er kam erst wieder zu sich, als eine plötzliche Strömung ihn zur Seite drückte und sein Rücken über Sand schrammte. Blinzelnd öffnete er die Augen. Nein, keine
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