Miss Seeton kanns nicht lassen
1
»Vorsicht!«
Das kleine Mädchen beachtete den Ruf nicht und trat auf die Fahrstraße. Miss Seeton rannte hin, die Hand mit dem Regenschirm schoß nach vorn, hakte den Griff um den Arm des gefährdeten Kindes und riß es zurück. Hart setzte sich das Kind auf den zementierten Kantstein, und wenige Fingerbreit vor den kleinen Füßen kam das Auto abrupt zum Stehen. Das Kind machte sich von dem Schirm los, blickte seine Retterin an und sagte:
»Blöde Kuh.«
»Effie!« schrie die Frau auf der anderen Straßenseite. »Komm sofort her! Und wenn du noch mal beinahe totgehst, dann kannst du was erleben, das sag’ ich dir!«
Das untersetzte kleine Ding stand auf und stapfte auf das Haus zu.
»Und bedank dich auch schön, hörst du?« rief die Mutter mahnend. »Los – sag, daß du’s nicht wieder tun willst!«
Das Kind wandte sich um, musterte erst den Wagen und dann Miss Seeton, streckte ihr die Zunge heraus, drehte sich nochmals um und verschwand im Haus.
»Vielen Dank auch!« rief die Mutter über die Straße. Damit folgte sie dem Kind, und die Tür schlug zu.
Mit freundlichem Lächeln wandte sich Miss Seeton an den Fahrer. »Ach ja – Kinder. So gedankenlos. Aber nicht alle«, schränkte sie ihre Worte dann ein. »Manche sind wirklich brav. Sie lernen’s auch in der Schule, wissen Sie – es gibt Klassen mit Lollies –, ich meine die Schülerlotsen mit den weißen Mänteln und so einer Scheibe auf ‘ner langen Stange, die führen sie über die Straßen, wie die römischen Legionäre. Bloß vergessen sie es manchmal – ich meine die Kinder. Wirklich fabelhaft, wie schnell Sie angehalten haben! Es hätte ja einen Unfall geben können«, fügte sie erklärend hinzu.
Zwei unbewegte Gesichter starrten sie an. Dem jungen Fahrer fiel eine Strähne des sauberen kurzgeschnittenen Haars über die Stirn; die Haut war hell, das Gesicht verdrossen mit vorsichtig abwartenden Augen. Neben ihm saß ein Mädchen mit glattem, lose auf die Schulter fallendem Haar, apathischer Miene und Furcht in den Augen. Keiner sprach. Miss Seeton lächelte noch einmal und trat zurück. Der Junge schaltete, und der Wagen fuhr an.
Miss Seeton sah ihm nach. Junge Leute… So schüchtern. Sie warf noch einen Blick auf die gegenüberliegenden Häuser – alles sozialer Wohnungsbau – und setzte dann ihren Heimweg fort. Ach ja, Effie Goffer. Zugegeben: nicht gerade ein angenehmes Kind. Aber sie wollte es doch noch einmal versuchen, um Mrs. Goffers willen. Ja – heute nachmittag wollte sie ihre Zeichensachen hervorholen. Es gab ja nun mal häßliche Entlein… Miss Seeton versuchte tapfer, sich Effie Goffer als künftigen Schwan vorzustellen, doch auch das mißlang. Vielleicht als Froschkönig…? Aber das war ja das falsche Geschlecht. Außer vielleicht bei Pantomimen. Ein Jammer, daß sie eben gar kein Talent hatte für die Art Porträts, wo man einfach einen Würfel zeichnete und ihm irgendwo Augen einsetzte. Sie lächelte schuldbewußt. Ein Würfel mit Augen: im Grunde war das – leider – keine schlechte Beschreibung von Effie.
Als Miss Seeton ihre Haustür erreicht hatte, war das Problem gelöst. Sie würde einfach gar kein richtiges Porträt zeichnen, sondern eher etwas nettes Allegorisches mit nur einer Andeutung von Effie. Das war die Lösung.
Zu ärgerlich.
Sie betrachtete die Zeichnung, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Allegorisch war sie nicht und hübsch erst recht nicht, sondern eher scheußlich und – ja: erschreckend. Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken; sie zog die Schultern ein und warf den Stift auf den Tisch. Wirklich kindisch. Vielleicht wurde sie allmählich wunderlich. Jetzt wollte sie erst mal die ganze Sache eine Weile vergessen und an etwas anderes denken – etwas recht Hübsches. Sie schob den Zeichenblock zur Seite, drehte den Stuhl um und blickte durch die Glastür ins Freie.
Zum Beispiel an die Knospen, die am Aufbrechen waren. Ein weicher grüner Schimmer lag wie farbiger Nebel auf den kahlen Zweigen. Krokus, Primeln, Narzissen… grün und gelb. Das Banner der Jugend, der wehe Ruf der Unschuld. Viele Schriftsteller wurden lyrisch im Frühling. Es war ja auch so leicht, ein Lämmchen liebzuhaben – nur dauerte es meist nicht lange, bis das süße Lämmerhüpfen der behäbigen Idiotie des Schafs Platz machte, und ein Schaf liebzuhaben, war nicht mehr so leicht. Sommer –? Ja, aber eigentlich noch zuviel Kraft und Farbe. Nein: Der Spätherbst war das Wahre, wenn die Konturen wieder
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