Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seele des Ozeans

Die Seele des Ozeans

Titel: Die Seele des Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
Vom Netzwerk:
bin kein Mensch. Schon lange nicht mehr. Was immer deine Berührung bei diesen schwachen Kreaturen anrichtet, mir wird nur ein bisschen kalt davon.“
    Kjell wankte. Ihm wurde heiß und schwindelig. Ja, er konnte sie in dem Alten spüren. Die Kraft der Seele, wenn auch nur schwach und krank. Trotzdem war der Alte vor ihm ein Mensch, was nur eines bedeuten konnte. Er musste das Licht auf andere Weise in sich aufgenommen haben. Durch Fleisch und Blut. Aber wie war das möglich? Die Tiere, die ihn gebissen hatten, waren alle gestorben.
    Als die Hand von seiner Brust verschwand, sah er einen Dorn am Ring des Greises. Und er sah den roten Fleck, der auf seinem Hemd entstand. Hitze kroch durch seine Adern, seine Gedanken wurden schwammig und blass. Er konnte sie kaum mehr festhalten.
    „Wo ist sie?“ Kjell packte die rechte Hand des Alten und schaffte es trotz seiner schwindenden Kraft, die Knochen darin mit einem mühelosen Ruck zu zerquetschen. Der Mann stöhnte, aber er schrie nicht. Stattdessen gingen seine leisen Schmerzenslaute in ein Lachen über. Blut tropfte auf den Teppich, während der Alte zurückwich und mit seiner Linken eine Waffe unter seinem löchrigen Jackett hervorzog. Kjell starrte auf das kleine, schwarze Loch der Mündung. Noch einmal würde er es nicht schaffen, ihn anzugreifen. Zu der Hitze kam eine unerträgliche Schwere. Seine Beine wollten ihn kaum mehr tragen. Alle Gedanken verblassten, selbst die an Fae. Er wollte schlafen. Einfach nur schlafen.
    „Schmerzen“, raunte der Alte wie von fern. „Sie bedeuteten mir schon lange nichts mehr. Sieh her.“
    Er bewegte die verkrümmten, gebrochenen Finger. Ein hauchfeines Knirschen und Knacken war zu hören. Das verwitterte Gesicht des Alten wurde noch eine Spur älter und faltiger, die Gier in seinem Blick noch lodernder. Kjell bedeutete es nichts mehr. Er fühlte nur noch eins: überwältigende Müdigkeit.
    „Ihr könnt mich nicht töten“, sagte der Greis. „Und jede Folter wäre wirkungslos. Ihr bekämt nicht einmal die Genugtuung meiner Schreie. Aber ich kann das Bewusstsein verlieren, denn ich bin alt und schwach. Wenn das geschieht, werdet ihr nie erfahren, wo die Kleine ist. Es wird knapp. Bis zu dem Strand, wo ich sie an einen Stein gefesselt habe, ist es eine Fahrt von dreißig Minuten. Ohne Zwischenfälle wie Staus oder rote Ampeln. Zögere noch länger, und sie stirbt.“
    Kjell sah, wie eine fleckige Hand nach seiner griff. Worte kamen aus seiner Kehle, schwach und schläfrig, ohne dass er sich erinnern konnte, sie ausgesprochen zu haben. „Woher weiß ich, dass du sie gehen lässt?“
    „Ich schwöre es dir. Komm mit, dann wird ihr nichts geschehen. Ich will nur leben, verstehst du? Ich will dem Grab entkommen, in dem ich als lebende Leiche liegen würde. Nicht fähig zu sterben, und noch weniger fähig, zu leben. Rette mich. Gib mir deine Jugend, und Fae wird leben.“
    Kjell spürte, wie er nickte. Sterben? Gut, dann sollte es so sein. Er fürchtete sich nicht. Auf der anderen Seite wartete das, wonach er sich seit seinem ersten Tod verzehrte. Wenn nur Fae nichts geschah.
    „Nein“, hauchte Alexander. „Tu das nicht. Bitte.“
    Er sah, wie Ukulele stumm den Kopf schüttelte und Henrys Augen sich mit Tränen füllten. Noch konnten sie sich nicht bewegen. Wie lange würde es dauern, bis die Lähmung nachließ?
    Es ist zu spät, wisperte der andere. Jetzt wirst du nie erfahren, wie mächtig du wirklich bist. Ich habe dich gewarnt.
    „Kjell!“ Das Flehen in Alexanders Stimme durchbrach die immer erdrückender werdende Mauer aus Müdigkeit. Diese Menschen liebten ihn. Sie brachten für ihn Opfer, und sie hatten schon viel zu viel getan, um ihn zu beschützen. „Bitte!“
    „Das Meer kommt zurück“, drängte der Alte. „Wir müssen uns beeilen.“
    Jedes Wort war die Wahrheit. Er nahm Faes Tod in Kauf. Aber er würde sie auch gehen lassen, wenn er bekam, was er wollte.
    Während er sich von dem Greis hinausführen ließ, willenlos wie ein Schatten seiner selbst, überwältigte ihn das Gefühl, dass alles, was er je getan hatte, was er sich gewünscht und wonach er sich gesehnt hatte, auf diesen einen Moment hinausgelaufen war. Es sollte geschehen. Musste geschehen. Selbst seine Zweifel und Widersprüche hatten hierher geführt.
    „Es tut mir leid.“ Mit gesenktem Blick ging der Alte zu dem verrosteten, dunkelblauen Wagen, der vor dem Haus stand, schloss auf und half Kjell einzusteigen. „Ich hoffe, das glaubst du

Weitere Kostenlose Bücher