Die Seele des Ozeans
Tausende selbstmordbereite Wale da draußen? Du bist verrückt, Sardine. Was solche Dinge anbelangt, dürfte es im Meer nicht anders laufen als an Land. Fordere fünftausend Menschen dazu auf, dich in eine blutige Schlacht zu begleiten, und wenn du Glück hast, folgen dir fünf. Oder täusche ich mich in deinen Freunden? Sind Wale bedeutend aufopferungsvoller als unsereins?“
Kjell antwortete nichts. Eine Handvoll Grindwale waren ihm zu Hilfe gekommen, dazu der alte Pottwal und ein paar Orcas. Viel mehr würden es wohl kaum werden, ganz gleich, wie laut er rief. Aber er erinnerte sich an das Gebrüll des Ungeheuers, an zerfetzte Tentakel und Unmengen Blut, dessen Geschmack nicht irdisch gewesen war und nicht dem Narwal gehört hatte.
Vielleicht würde es reichen.
Alexander parkte den Wagen vor ihrem Haus. Sehnsüchtig betrachtete Kjell die weiße Fassade, die schwarzen Fenster und den Zaun mit der abblätternden, grünen Farbe.
Zu Hause.
Fae wartete auf ihn. Vielleicht hatte Ukulele schon ein Essen zubereitet. Oh ja, ein gutes Essen, eine Geschichte vor dem Kamin, und dann würden sie endlich allein sein, in ihrer kleinen Kammer unter dem Dach, die nicht so schön war wie Faes Zuflucht im Strandhaus, aber genauso dunkel und gemütlich, mit staubig riechendem Holz und einer Unmenge an Decken und Kissen, mit denen sie, als sie ihr Zuhause verlassen mussten, den ganzen Jeep vollgestopft hatten.
„Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Kjell wandte sich Alexander zu und sah ihm in die Augen. „Sei ehrlich.“
Sein Gegenüber seufzte. „Dasselbe. Warten hat mich schon immer wahnsinnig gemacht.“
„Siehst du? Fae macht mich glücklich, deswegen will ich nicht weiter Angst haben müssen.“
„Verstehe“, murmelte Alexander. „Dir ist aber schon klar, dass meine Schwester sterben wird, wenn du nicht zurückkommst?“
„Ich komme zurück.“
„Wann willst du gehen?“
„Morgen früh.“
Alexander rieb sich die Stirn. „So bald schon? Wirst du es ihr sagen?“
Kjell zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich matt und schwach, gut möglich, dass es mehrere Tage dauerte, bis er die nötige Kraft getankt hatte, einen Ruf in den Ozean hinauszuschicken, der laut und deutlich genug war. Ehe sich die Wale um ihn versammelt hatten, würden noch einmal einige Tage vergehen.
„Sag es ihr“, entschied Alexander. „Fae durchschaut deine Lügen. Sie wird sauer sein und dich aufhalten wollen, klar. Aber wenn du sie anlügst und sie findet es heraus, dann gnade dir Gott.“
Kjell stieg aus dem Wagen und ging ins Haus. Wunderbare Düfte stiegen ihm in die Nase. Ukulele stand in der winzigen Küche und kochte. Henry saß im Wohnzimmer, das nicht viel größer war, schmökerte in einer Zeitung und las einzelne Sätze rückwärts daraus vor.
„Schon zurück?“, erklang Alexanders Stimme.
„Yep“, antwortete der Hawaiianer mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. „Ging schneller, als gedacht.“
Kjell sah sich um. Fae war nicht hier. Die drei Zimmer des kleinen Hauses gingen offen ineinander über, also war sie entweder im Dachzimmer oder fort.
„Wo ist sie?“
Henry blickte von seiner Zeitung auf und sah aus, als erwarte er einen Kinnhaken. „Weg ist sie, dieses ungehorsame Weibsstück.“
„Weg? Aber sie soll nicht allein rausgehen.“
„Ja“, knurrte Henry. „Ich weiß. Allerdings ging dein Schätzchen die Wände hoch. Sie fühlt sich eingesperrt. Du kannst dich nicht ständig in die Einsamkeit des Sees flüchten, während du Fae Hausarrest erteilst.“
„Ich habe sie nicht eingesperrt.“
Kjell spürte die Wut wie ein glimmendes Feuer in seinem Kopf. Sie vermischte sich mit seiner Angst, wurde noch heißer und gab ihm das Gefühl, eines dieser zerbrechlichen Tiefseegeschöpfe zu sein, die jeder Griff zersplittern ließ wie hauchdünnes Glas. „Ich habe Angst um sie.“
„Willkommen in meiner Welt.“ Alexander tauchte hinter ihm auf. Er warf die Schlüssel auf den Sofatisch und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Henry! Wo steckt sie? Warum hast du sie nicht aufgehalten? Meine Anweisungen waren klar, oder nicht?“
„Komm mal wieder runter. Ich habe es versucht. Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Sie knebeln und fesseln? Sie bewusstlos schlagen?“
„Zur Not. Ihr wisst, wie gefährlich es ist. Vielleicht werden wir beobachtet. Vielleicht wartet der Typ, der hinter Kjells Herz her ist, nur auf eine günstige Gelegenheit. Und wer jemandem ohne Skrupel den
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